Clara

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Schon seit zwei Stunden sitzen wir in der Bibliothek. Die Themenverteilung hat eigentlich ganz gut funktioniert, doch jetzt bin ich einfach nur noch genervt. Genervt von Hannahs rumgeprahle und offenen Flirtversuchen, die Paul gelten. Dieser scheint auch nicht sonderlich begeistert davon zu sein, doch lässt sich ansonsten auch nichts anmerken. Ich öffne meine Tüte mit der Nervennahrung, die mir Paul mitgebracht hat. Es ist ein Blaubeermuffin. Er ist so aufmerksam. Ich beiße genüsslich hinein und entspanne mich augenblicklich. Paul wirft mir einen Blick zu und schenkt mir ein verlegendes Lächeln. Ich lächle zurück und widme mich dann wieder meinem Teilbereich unseres Projekts.

Weitere 3 Stunden später rauchen uns allen unsere Köpfe und unsere Konzentration ist weg. Wir sind alle fast fertig geworden. Nun müssen wir bei unserem nächsten Treffen nur noch alles zusammentragen. Während der Zeit in der Bibliothek habe ich Hannah immer wieder beobachtet, um zu sehen, was sie macht. Die Antwort darauf ist ganz simpel: Gar nichts. Null. Nada. Sie hat nichts geschafft. Wenn sie mal an ihrem Computer war, war sie auf Instagram und hat sich irgendwelche Influencerinnen angesehen, die sich schminken. Wenn sie lieber das machen möchte in ihrem Leben, bräuchte sie kein Mathestudium, also soll sie sich anstrengen. Ich möchte keine schlechte Note wegen ihr bekommen. Deshalb mag ich keine Gruppenarbeiten, bei der man sich die Gruppe nicht selber aussuchen darf. Es endet in der Regel nämlich immer so, dass mindestens einer gar nichts macht und die harterarbeitete Note der restlichen Gruppe dennoch bekommt. Zum Glück müssen wir am Ende aber noch angeben wer was zu wieviel Prozent gemacht hat.
"So Leute, ich kann nicht mehr. Ich würde sagen, dass wir für heute aufhören und uns übermorgen nochmal treffen, um alles zusammenzutragen", schlägt Alessandro vor. Wir stimmen alle zu und packen unsere Sachen zusammen. Wir treten raus in die kalte Nachtluft und atmen die frische Luft ein. "Habt ihr noch Lust, was essen zu gehen?", fragt Kevin.
"Ja klar", kommt es von Paul.
"Ich habe bärenhunger von dem ganzen Suchen im Internet und Denken", meint Hannah. Ja, wahrscheinlich von dem Suchen nach deinem Gehirn.
"Ich muss leider los", antwortet Alessandro.
"Was ist mit dir Clara? Kommst du mit?", fragt mich Paul. Hannah fixiert mich mit ihren eiskalten blauen Augen.
"Nein, tut mir leid. Ich habe zwar Hunger, aber ich muss noch zur Arbeit, da wir heute unterbesetzt sind. Euch viel Spaß."
Paul wirkt ein wenig geknickt, doch Hannah wird sich schon gut um ihn kümmern.
"Wo musst du lang?", fragt mich Alessandro.
Ich zeige in Richtung U-Bahn.
"Ich auch"
Wir laufen gemeinsam zu der U-Bahn Station. Abends ist mir die U-Bahn nie ganz geheuer, daher bin ich froh, dass jemand mit mir wartet, den ich kenne.
"Wo arbeitest du?"
"In einer Buchhandlung"
"Interessant. Wie bist du genau auf diesen Job gekommen?"
"Naja, ich lese gerne, kaufe gerne Bücher und bin gerne in Buchläden."
"Ja, dann ist die Jobwoahl nur logisch und richtig." Wir beide lachen.
Ich senke meine Stimme und lehne mich verschwörerisch zu ihm rüber. "Und es gibt manchmal Prozente als Angestellte. Aber sag das niemandem!"
"Pfadfinder-Ehrenwort", antwortet Alessandro ganz ernst. Daraufhin müssen wir noch mehr lachen. "Warst du denn auch mal Pfadfinder?"
"Ja, 6 Jahre lang. Die schlimmste Zeit meines Lebens. Wir mussten draußen campen und nachts sind Käfer in das Zelt gekrabbelt, weil unser Reißverschluss vom Zelt kaputt gegangen war. Das war nicht so schön." Wir verziehen beide angewidert das Gesicht. Einige Minuten später kommt unsere Bahn. Wir steigen ein und setzen uns hin.
"Wohin fährst du?"
"Zu m-", er stockt. "einem Freund". Dann guckt er sich schnell in der Bahn um. Hm, wofür schämt er sich?
"Achso" Ich hake nicht weiter nach. Alessandro wirft mir einen dankbaren Blick zu.
"Ich muss hier jetzt aussteigen. Viel Spaß bei deinem Freund." Er zuckt leicht zusammen, doch fasst sich schnell wieder. "Danke, viel Spaß bei der Arbeit. Bis morgen."
"Danke, bis morgen."
Ich steige aus und beeile mich aus dem Untergrund zu kommen.

Ich begrüße Valentina vorne im Laden und bringe meine Sachen dann nach hinten. Ich sehe, dass das neue Buch von Ali Hazelwood "Das irrationale Vorkommnis der Liebe" angekommen ist. Und das Beste ist, dass es mit Farbschnitt ist. Davon muss ich mir gleich eins kaufen. Ich gehe zurück in den Laden.
"Hast du es gesehen?", fragt Valentina mich sofort.
"Jaaa, es ist perfekt", antworte ich.
"Davon nehme ich mir gleich eins mit!", sagen wir beide gleichzeitig und fangen an zu lachen. Die restliche Schicht verläuft ruhiger und schon bald ist Schichtende. Valentina und ich schnappen uns je ein Buch von Ali Hazelwood, bezahlen es und gehen dann Richtung Ausgang.
"Ich habe so Hunger. Ich will nur noch nach Hause", jammer ich rum. Valentina verdreht die Augen, da ich sie schon die ganze Zeit damit nerve. Sie schließt den Laden ab. "Soll ich dich nach Hause fahren, dann bekommst du schneller was zwischen die Zähne. Bevor du gleich die anderen Bahnfahrer anfällst."
"Ha ha, ja-"
"Das würde ich gerne übernehmen", erklingt plötzlich eine Stimme hinter mir und eine Hand berührt meine Schulter. Ich erschrecke mich, drehe mich um und hole zum Schlag aus. "Ich habe was zu Essen dabei. Bitte verschone mich", fleht der Unbekannte mich an und streckt mir eine Essenstüte entgegen. Hinter der Tüte kommt ein dunkelblonder Haarschopf zum Vorschein. Pauls Haarschopf. Ich lasse die Hand langsam sinken.
"Worauf wartest du? Schlag ihn k.o!", ruft Valentina.
"Alles gut. Das ist nur Paul."
Paul lächelt zerknirscht.
"Du kennst ihn?"
"Ja, er ist ein Kommiliton von mir. Wir sind zusammen in der Mathegruppenarbeit", kläre ich Valentina auf.
Sie nickt skeptisch. Ich wende mich Paul zu.
"Was willst du hier? Ich dachte, dass du mit Kevin und Hannah essen bist?", frage ich ihn mit mehr Vorwurf in der Stimme, als beabsichtigt.
"War ich auch. Aber es wurde irgendwann zu langweilig und du hast gesagt, dass du Hunger hättest. Also habe ich dir etwas besorgt und auf dein Schichtende gewartet."
Ich bekomme vor Rührung kein Wort raus und lächle ihn einfach nur an. Bis ich von Valentina aus meiner Träumerei gerissen werde.
"Also, ich glaube, dass du hier auch ganz gut ohne mich zurecht kommst. Du fährst dann mit ihm?"
Ich nicke und umarme sie zur Verabschiedung. Ich folge Paul zu seinem Auto und gebe meine Adresse in seinem Handy ein. Im Auto reicht er mir die Essenstüte.
"Danke, das wäre doch nicht nötig gewesen."
"Ich will doch nicht, dass du vom Fleisch fällst. Wie bekommen wir denn ohne dich die Präsentation fertig?"
"Achso, darum geht es dir also."
Er zwinkert mir zu und ich gucke in die Tüte. Mhh, Burger.
Er sieht mich an und bemerkt meinen skeptischen Blick.
"Was ist los?"
Ich gucke ihn zerknirscht und entschuldigend an. "Das ist Fleisch."
"Das ist richtig", er zieht seine Augenbrauen zusammen.
"Ich bin Vegetarierin."
Sein ganzes Gesicht wird schlaff. "Oh nein, das habe ich nicht bedacht. Mist. Weißt du was? Wir fahren woandershin und kaufen dir was." Er reißt mir die Tüte aus der Hand und stellt sie auf den Rücksitz. Dann fährt er sich verzweifelt durch sein Haar. Ich zücke mein Handy und mache ein Foto, dann breche ich in schallendes Gelächter aus. Er schaut mich nur verwirrt an.
"Hast du mir echt geglaubt, dass ich Vegetarierin bin?!" Ich recke mich nach hinten und schnappe mir die Tüte mit den Burgern wieder.
"Verdammt, ja!" Er schaut mich immer noch mitgenommen an.
"Ohhhhh" Ich gluckse weiter und fische eine Pommes aus der Tüte. "Willst du?", frage ich ihn und halte sie ihm hin.
"Nein, danke!" Ich zucke mit den Achseln und esse die Pommes. Paul fährt los.
"Darf man in deinem Auto essen?", frage ich ihn.
"Eigentlich nicht, aber für dich mache ich eine Ausnahme." Er lächelt mich von der Seite an, als ich gierig meinen Burger raushole. "Für wen sind die anderen 2?"
"Wenn du willst, kannst du die auch essen. Ansonsten noch einer für dich und einer für mich." Ich beiße in den Burger und lasse mich gegen den Sitz fallen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich so Hunger gehabt habe.
"Tut mir leid, dass ich dir heute schon zwei Mal einen Schreck eingejagt habe. Einmal die Faust und dann das mit dem vegetarisch sein."
"Ach alles gut. Aber ich habe es dir wirklich abgekauft. Sicher, dass du Mathe studieren willst und nicht lieber doch Schauspielerin werden willst?"
"Wollte ich tatsächlich, als ich klein war, aber Mathe hat mich auf seine Seite gezogen. Wahrscheinlich, weil Mathe pi hat." Ich lache. "Verstehst du? Pie. Wie im englischen diese bedeckten Kuchen."
Paul lacht, aber wahrscheinlich nur, weil ich so verkorkst bin. Wenn ich Hunger habe, bin ich nicht mehr zu gebrauchen, also widme ich mich wieder meinem Burger und wir fahren in angenehmen Schweigen weiter.

Erkämpfte Liebe Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt