Day 12: Forget

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Vor langer, langer Zeit lebte einstmals ein junger Mann. Er lebte in einem kleinen Dorf auf dem Land und folgte tagein, tagaus, seitdem er sich erinnern konnte, dem Trott des Alltags.
Eines Tages als er im nahegelegenen Wald jagte, traf er aus dem Nichts auf eine Gestalt. Die Gestalt hatte ein hübsches, aber nicht bemerkenswertes Gesicht. Ein Gesicht, das man vergaß, selbst wenn man es für längere Zeit ansah. Der junge Mann senkte überrascht Pfeil und Bogen, während sich die Gestalt im zuwandte.
„Wer bist du?", fragte er sie erstaunt. Die Gestalt lächelte traurig.
„Kein Wer, wenn ich jemand wär, würde ich nicht vergessen werden.", sagte sie mit leisem Singsang in der Stimme. „Ich bin einfach nur ein etwas, das sogleich vergessen wird, sobald man den Blick abwendet. Das ist mein Fluch."
Der junge Mann konnte es nicht glauben, war er doch fasziniert von der seltsamen, aber wunderschönen Gestalt. Eine merkwürdige Vertrautheit schien von ihr auszugehen...
„Ich werde dich nicht vergessen!", sagte er laut bevor er den Satz überhaupt gedacht hatte. Die Gestalt sah ihn überrascht an, gleichzeitig glimmte Hoffnung in ihren Augen auf.
„Sobald du dich umgedreht hast, darfst du mich für zehn Tage nicht vergessen, sonst verschwinde ich.", flüsterte sie. Der junge Mann nickte entschlossen und wandte sich um.
Die Tage vergingen. Der junge Mann wachte mit dem Gedanken and die Gestalt auf und ging mit ihr zu Bett. Jemanden nicht vergessen? Was konnte denn daran so schwer sein? Doch wie so viele Unwissende, war er sich nicht im Klaren darüber was so ein Fluch bewirken konnte.
Für drei Tage hatte er die Gestalt im Kopf, sie füllte jede Sekunde seines Tages aus und die Aufgabe erschien leichter als alles auf der Welt. Nach fünf Tagen begann sie immer wieder für kurze Zeit zu verschwinden, denn die Gedanken von jedem werden auch von anderen Dingen beansprucht. Nach sechs Tagen erwischte sich der junge Mann dabei wie seine Gedanken teilweise für Stunden abschweiften. Um sein Gedächtnis aufzufrischen besuchte er mehrmals die Stelle an der er die Gestalt getroffen hatte. Am achten Tag fiel ihm alles mit einem Schlag für einige Sekunden ein.
‚Es wird alles gut werden.', redete er sich ein. ‚Nur noch zwei Tage. Zwei Tage sind zu schaffen.'
Doch ein so schwerwiegender Fluch wäre nicht so einfach zu brechen. Am neunten Tag dachte er nur ein einziges Mal noch an die Gestalt. Hatte sie lange Haare gehabt? Was für Kleidung hatte sie getragen? Wie sah ihr Gesicht aus?

Am zehnten Tag war sie fort.
Nun ja, zumindest fort aus seinem Gedächtnis. Die Gestalt stand am Rande des Waldes und blickte auf den jungen Mann, der in der Nähe dem gewohnten Trott des Alltags nachging. Ein trauriges Lächeln lag auf ihren Lippen.
„Nicht mal an deinen eigenen Fluch kannst du dich erinnern, so stark hast du ihn gemacht...", murmelte sie, bevor sie langsam verschwand.
Dort wo sie gestanden hatte, wuchs langsam eine kleine Blume mit kleinen, zartblauen Blütenblättern, so klein, dass sie nicht besonders auffiel und man sie sofort vergaß, sobald man den Blick von ihr abwandte.

Inktober 2022 (but I write)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt