Day 16: Fowl

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Vor langer Zeit lebte in einem kleinen Dorf ein kleines Mädchen. Sie war von Geburt an blind und wäre eigentlich schon dem Tod überlassen worden, wie es zu dieser altertümlichen Zeit üblich gewesen war. Ihre Mutter jedoch wehrte sich so lange dagegen, bis man widerwillig das Kind am Leben ließ. Das Dorf war bereits in den vergangenen Jahren von der Natur und anderen Katastrophen wie Plünderern gebeutelt wurden, somit brauchten sie jeden einzelnen.
Das Kind wuchs für sechs Jahre als Außenseiterin auf. Einzig und allein ihre Mutter war immer freundlich und liebevoll zu ihrer Tochter. Trotz ihrer Blindheit half das Mädchen mit wo es nur konnte. Über die Jahre hatte sie das Dorf in- und auswendig gelernt, wusste genau wo sie hintreten musste und wo sie wen finden würde.
Doch wie so oft meint das Schicksal es nicht gut mit denen, die sowieso schon zu kämpfen hatten. Im achten Frühling den das Mädchen erlebte, starb ihre Mutter an einem schweren Fieber. Ihr Vater, der seine Frau bereits in dem Moment verlassen hatte, in dem sie das Kind mit allen Mitteln verteidigt hatte, kümmerte sich nicht um sie. Für ihn war das Mädchen, wie für alle anderen im Dorf, eine Last, ein Maul, das gefüttert werden musste, ohne je die gleiche Leistung zu erbringen wie alle anderen.

Bereits zum Sonnenaufgang des nächsten Tages, nur wenige Stunden nachdem man ihre Mutter begraben hatte, wurde das Mädchen im Wald ausgesetzt.
„Komm ja nicht wieder, du hast dem Dorf nur Unglück gebracht.", waren die letzten Worte, die das Kind von den Dorfbewohnern hörte. Voller Traurigkeit lauschte sie den verhallenden Schritten nach.
„Oh bitte, wie soll ich denn das alles alleine schaffen?", wimmerte sie und schlang die Arme um die Knie, bevor sie anfing bitterlich zu weinen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel als das Mädchen aufs Geradewohl loslief. Hilflos tastete sie sich an den Bäumen entlang und versuchte nicht hinzufallen. Mit den Füßen, die nur in einfachen Stoffschuhen steckten, suchte sie zuerst den Boden vor sich ab, damit sie nicht stolperte oder irgendwo hineintrat.
Es dauerte nicht lange bis das Mädchen hungrig wurde. Sie begann jeden Busch abzutasten, den sie bemerkte. Anhand der Blätter konnte sie erkennen ob seine Beeren giftig oder essbar waren. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht, da sie nicht die Farben der Beeren sehen konnte. Nach nur wenigen Minuten schaffte es ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, denn sie war fündig geworden. Nach nur wenigen Minuten war der Saum ihres einfachen Kleids, den sie nach oben hielt, damit eine kleiner Beutel entstand, mit Beeren gefüllt.

So schlug sich das kleine Mädchen über die Tage hindurch. Tagsüber wanderte sie, nachts betete sie.
„Bitte, liebe Götter, könnt ihr mir denn nicht helfen?", fragte sie jedes Mal verzweifelt, doch der Wald um sie herum blieb still.
Nach fünf Tagen betrat das Mädchen eine Lichtung. Ihre Schuhe waren bereits lange kaputt und ihre Füße waren vom Waldboden verdreckt und aufgeschürft. Der Saum ihres Kleides war völlig zerfetzt und das Mödchen selbst am Ende ihrer Kräfte. Gerade als sie sich hinsetzen wollte um sich auszuruhen, hörte sie plötzlich ein Geräusch. Aufmerksam hob sie den Kopf und drehte ihn in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war. Es war ein leises Zwitschern, wie von einem kleinen Vogel.
Langsam stand das Mädchen auf und folgte dem Geräusch. Es wurde immer lauter und als es so klang als käme es direkt vor ihr, blieb sie stehen. Sie kniete sich hin und strich mit der Hand langsam über den Boden, bevor sie die Quelle des Geräusches entdeckte.
„Na hallo.", flüsterte sie dem Federball zu, der weiterhin zwitscherte. Vorsichtig nahm sie ihre zweite Hand dazu, sodass der Vogel auf ihren Händen saß und richtete sich wieder auf. Über ihr erklang ein ähnliches Zwitschern.
„Bist du etwa aus dem Nest gefallen?", murmelte sie, das Gesicht nach oben gerichtet. Mit einer Hand tastete sie in der Luft herum, bis sie gegen einen harten Baumstamm stieß.
‚Der einzige Weg ist klettern...', dachte das Mädchen und schluckte. Nichts sehend und dazu noch nur mit einer Hand?
„Kannst du dich festhalten?", fragte sie den kleinen Vogel. Wie eine Bestätigung lies dieser einen kurzen Pfiff hören. Das Mädchen hob die Hand , sodass er auf ihre Schulter hüpfen konnte, dann begann sie mit einem mulmigen Gefühl zu klettern.
Obwohl sie nun immerhin mit beiden Händen den Baum erklimmen konnte, war es eine nervenaufreibende Situation. Mehr als nur einmal wäre das Mädchen beinahe abgerutscht, doch die kleine Menge Mut, die ihrem Herzen entsprang, ließ sie immer höher klettern. Das Zwitschern des erwachsenen Vogels zeigte ihr dabei den Weg und nach einiger Zeit erreichte sie den Ast, wo das Nest sein musste. Das Mädchen spürte wie der kleine Vogel von ihrer Schulter hüpfte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, welches jedoch gleich wieder verschwand, als sie ein lautes knacken hörte und im nächsten Moment den Halt verlor.
Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst als das Mädchen auf dem Rücken landete. Tränen traten ihr in die Augen als ein dumpfer Schmerz sich in ihrem gesamten Körper breitmacht.
„Nicht weinen Kleines."
Erschrocken fuhr das Mädchen beim Klang der säuselnden Stimme auf. Wie lange hatte sie schon keine Stimme mehr gehört? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor...
„W-wer bist du?", fragte sie ängstlich und wandte sich in die Richtung aus der sie die Stimme vernommen hatte. Die Person lachte leise.
„Ich habe deine Hilferufe vernommen, Kleines , und ich bin ihnen gefolgt.", antwortete der Unbekannte. Die Augen des Mädchens wurden groß.
„Bist du ein Gott? Haben die Götter mich doch gehört?", flüsterte sie voller Ehrfurcht. Ein Rascheln ertönte, dann erklang die Stimme wieder, diesmal sehr viel näher: „Das ist richtig, Kleines." - „Kannst du mich wieder gesund machen? Vielleicht kann ich dann wieder nach Hause?", fragte das Mädchen flehend. Stille machte sich breit.
„Es gibt leider Dinge über die selbst ich keine Macht habe. Ich bin ein Gott der Natur, die Natur ist frei und unterliegt keinerlei Regeln und ihr Wille lässt sich nicht rückgängig machen. Deine erblindeten Augen sind ein Teil ihrer und wie könnte ich mich dem Kern meines eigenen Wesens widersetzen?"
Die Worte des Gottes sanken zwischen ihnen nieder wie ein schweres Tuch. Das Mädchen schluckte, bevor sie flüsternd sagte: „Also werde ich nie sehen können..." - „Das habe ich nicht gesagt."
Überrascht blickte sie auf.
„Wie ich bereits sagte, die Natur unterliegt keinerlei Regeln und ist aber auch nicht umkehrbar. Wenn ich dir helfe, wirst du nicht wieder zu den Menschen zurückkehren können. Du wirst unter den Halbgöttern dieser Erde wandeln, gefangen an der Schwelle zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit. Überlege dir gut, was du willst."

Das Mädchen überlegte. Für lange Zeit blieb es still, selbst der Wald um sie herum war verstummt, als erwarte selbst er gespannt ihre Antwort. Schließlich lächelte sie und nickte.
„Wenn ich dem würdig bin, dann möchte ich deine Hilfe annehmen, Gott der Natur.", sagte sie. „In dieser Welt gab es nur eine, die mich festgehalten hat und die ist nicht mehr da."
Im nächsten Moment explodierten um sie herum die Farben.

Das Mädchen staunte. Sie drehte sich. Sie sah.
„Unglaublich.", flüsterte sie. „Wie?..."
Das Mädchen drehte sich in die Richtung in der der Gott der Natur stehen musste. Erstaunt betrachtete sie ihn. Er hatte die Gestalt eines riesenhaften, leuchtend bunten Vogels. Hinter ihn konnte sie eine Schleppe erkennen, die aus vielen, langen Federn zu bestehen schienen. Der Gott nickte in Richtung einer Pfütze am Rande der Lichtung. Das Mädchen trat heran und betrachtete staunend zum ersten Mal ihr Ebenbild. Ihre Augen waren immer noch erkennbar blind. Struppige, schwarze Haare fielen auf ihre Schultern, welche ebenso dreckig waren wie der Rest ihres Körpers. Eine kleine Stupsnase zierte gemeinsam mit einem kleinen, lächelnden Mund ihr Gesicht. Doch hinter ihr war das zweite Wunder, welches sie sah.
Prächtige, lange Pfauenfedern bildeten ein großes Rad hinter ihrem Rücken. Die Augen an den obersten Enden leuchteten in den buntesten Farben und schenkten ihr nach acht Jahren voller Dunkelheit und Kummer den Anblick der Schönheit ihrer Welt.

Inktober 2022 (but I write)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt