𝚁𝚊𝚒𝚗𝚢 𝙳𝚊𝚢

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[Donnerstag]
Felix PoV:

Mit einem leisen Seufzen mustere ich die dunkle Wolkendecke am Himmel und strecke meine Hand unter dem Dach hervor. Der Regen wird wohl so schnell nicht wieder aufhören und ausgerechnet heute habe ich meinen Regenschirm vergessen. Dabei habe ich mich so sehr darauf gefreut, ihn heute wiederzusehen. Doch wenn ich noch länger hier stehen bleibe, verpasse ich ihn und sein wunderschönes Lächeln und das möchte ich auf gar keinen Fall.

„Es hilft ja alles nicht." Ohne weiter zu zögern, ziehe ich mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht und mache den ersten Schritt hinaus in den Regen. Bis ich an der Bushaltestelle angekommen bin, werde ich vermutlich vollkommen durchnässt sein, aber das ist es mir wert. Nur hoffentlich fange ich mir dabei nichts ein. Eine Erkältung könnte ich zur Zeit überhaupt nicht gebrauchen. Wenn ich nur daran denke, was mein Chef dazu sagen würde, zieht sich in mir alles zusammen. Es kommt mir hin und wieder so vor, als wenn er nur auf einen Grund wartet, um mich kündigen zu können. Vielleicht mache ich mir aber auch zu viele Gedanken.

Wie gerne ich manchmal einfach den ganzen Tag in meinem warmen Bett liegen bleiben und die Welt um mich herum vergessen würde. Der einzige Grund, der mich in den letzten Wochen noch am laufen hält, ist der Junge, welcher jeden Donnerstag um die gleiche Zeit auf der gegenüberliegenden Seite meiner Bushaltestelle auf der Fensterbank hockt und seinen Plüschhasen fest im Arm hält. Das erste Mal, als ich ihn dort gesehen habe, war er bitterlich am weinen und ich konnte dabei einfach nicht tatenlos zusehen. Er schien so unglaublich verzweifelt.

Um ihn wenigstens ein bisschen aufzumuntern, habe ich dann angefangen Grimassen zu ziehen und ich kann bis heute nicht sagen, ob er sie lustig fand. Aber immerhin hat er aufgehört zu weinen. Und seitdem sehe ich ihn jeden Donnerstag dort sitzen. In den letzten Wochen haben wir sogar damit angefangen, uns kurze Botschaften auf Zettel zu schreiben und sie uns gegenseitig hochzuhalten. Wir haben uns viele Komplimente gemacht, doch bisher weiß ich immer noch nicht, wie er überhaupt heißt.

Ich würde ihn nur zu gerne endlich persönlich kennenlernen, aber ich kann ihn schlecht dazu zwingen, seinen sicheren Platz, an dem er sich wohl zu fühlen scheint, zu verlassen. Er wird schon zu mir herauskommen, wenn er sich vielleicht irgendwann dazu bereit fühlen wird und wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Solange zaubern wir uns gegenseitig ein Lächeln aufs Gesicht. Und vielleicht würde ein richtiges Kennenlernen genau dies zwischen uns kaputt machen. Vermutlich ist es so, wie es im Moment ist, am besten.

An meiner Bushaltestelle angekommen, lasse ich meinen Blick erwartungsvoll hinüber zu dem Fenster wandern, an welchem er immer sitzt, ehe sich die Enttäuschung in mir breit macht. Er ist nicht da. Aber wieso? Es ist doch heute Donnerstag oder nicht? Bin ich etwa zu spät gekommen? Sichtlich verunsichert sehe ich kurz auf mein Handy hinunter, doch sowohl die Uhrzeit, als auch der Wochentag passt. Ich habe ihn also nicht verpasst. Ist ihm vielleicht etwas zugestoßen oder ist er krank? Sollte ich mir Sorgen um ihn machen?

Ich könnte hinüber auf die andere Straßenseite gehen und bei ihm klingeln, doch habe ich überhaupt das Recht dazu? Schließlich sind wir nur Fremde oder nicht? Wir haben noch nie wirklich miteinander geredet und ich kenne noch nicht einmal seinen Namen. Es kann ja auch sein, dass er mich heute nicht sehen möchte. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Vielleicht hat er aber auch einen besseren Zeitvertreib gefunden. Was auch immer es ist, ich sollte diese Zweifel nicht zu sehr an mich heranlassen. Er hat mit Sicherheit einen guten Grund dafür, wieso er nicht da ist.

Sichtlich enttäuscht lasse ich meinen Blick wieder hinunter auf den Boden wandern und kämpfe gegen die aufsteigenden Tränen an. Wieso fange ich denn jetzt an zu weinen? Er sollte mir nicht so viel bedeuten. Es ist vollkommen lächerlich, dass ich überhaupt Gefühle für ihn entwickelt habe. Ich habe es schon vor einer Weile gemerkt und ich wusste, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, an dem es schmerzlich wird. Ich kann ihn aber nicht einfach ohne Grund fallenlassen. Für ihn ist mir das Ganze aber auch wert.

𝚁𝚊𝚒𝚗𝚢 𝙳𝚊𝚢 ≪𝙾𝚂≫ 𝙹𝚒𝚕𝚒𝚡 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt