Stürmische Nacht

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Regen peitschte gegen die Scheiben der 221b Baker Street, und die schwarzen Wolken zogen den Himmel entlang wie jagende Falken. Die meisten Lichter der Häuser waren bereits erloschen, und nur der flackernde Lichtschein der Laternen bewahrte die Straße vor der kompletten Dunkelheit. Ein eiserner Wind verwirbelte die Regentropfen in alle Richtungen, nur um sie mit einer gar unvorstellbaren Wucht gegen die Fensterscheiben donnern zu lassen.

Dr. Watson stand am Fenster der 221b Baker Street und beobachtete das Naturschauspiel. Hin und wieder nippte er an seiner Teetasse, die ihm zusätzlich das Gefühl der Wärme vermittelte, während dort draußen die Natur unerbittlich tobte. Nach einem großen Schluck Tee sagte er schließlich: „Holmes, es würde mich doch nicht wundern, sollte in dieser Nacht die Welt untergehen. Hören sie sich bloß diesen scheußlichen Wind an." Ebendieser hörte allerdings nicht einmal den Doktor. Holmes saß gedankenversunken Pfeife rauchend in seinem großen Sessel und beobachtete ebenfalls die Welt jenseits der Fensterscheibe, wenngleich seine Betrachtungsweise kaum mit der seines Freunds und Beraters Watson zu vergleichen war. Er war gedanklich bei Rauben und Morden, die es aufzulösen galt, und sah den Regen vielmehr bildlich, metaphorisch als sein zur weltlichen Sicht neigender Freund. Erst der dumpfe Schlag auf Holz ließ ihn schreckhaft aus seinem Sitz aufschrecken. „Herrgott Doktor, können Sie ihre Tasse denn nicht wie jedes andere vernunftbegabte Wesen auf den Tisch stellen, ohne Kriegslautstärke zu provozieren?" „Also gut Holmes, ich sehe, ich habe sie beim Denken gestört", seufzte der gutmütige Watson. „Woran arbeiten Sie denn im Moment?". Holmes erhob sich aus dem Sessel und begann, im Zimmer auf- und abzuwandern, den hallenden Donner im Hintergrund ignorierend, mit seiner Explikation. „Sie werden sich erinnern, werter Doktor, dass am vergangenen Dienstag eine Frau tragisch den Tode gefunden hat, da Sie schließlich ebenso wie meine Wenigkeit täglich die Times studieren. Und auch werden Sie sich erinnern, dass im Körper der Dame ein tödliches Gift nachgewiesen werden konnte, so schnell wirkend, dass der Tod tatsächlich kaum abwendbar war." Holmes zog wenige Male an seiner Pfeife, nicht, ohne das Herauf- und Herabschreiten unterlassen zu wollen. Schließlich fuhr er fort: „Diese Frau starb wenige Straßen entfernt eines Pubs, welchen sie laut Zeugenaussagen auch tatsächlich besucht hatte. Durch die geringe Wirkungsdauer ist annehmbar, die Dame habe in diesem Pub selbst das Gift verabreicht bekommen. Bevor ich mich dem Tathergang widmen werde, leuchtet es mir doch nicht ein, was eine Dame am helllichten Tage in einem Londoner Pub zu suchen hat, ob sie eine regelmäßige Kneipenbesucherin war, ob die Familie der Dame..."; Holmes unterbrauch seinen Vortrag, da Watson anfing zu grinsen. „Was", fragte Holmes mit fragender Mine, „was, mein lieber Doktor, ist so amüsant an diesen Gedankengängen?". „Nun ja", antwortete sein Freund schmunzelnd, „Sie möchten zugeben, dass ich doch immer ein recht passabler Begleiter für Sie war, doch dass mein Geist dem Ihren gleichzusetzen wäre, scheint doch ein wenig ad absurdum zu führen, meinen Sie nicht auch? Ich fürchte, mein werter Holmes, diese Fragen werden Sie sich selber beantworten müssen." „Nun", sagte Holmes und zog erneut an seiner Pfeife, „ich fürchte, da sollen Sie Recht behalten." Ein Donnerschlag krachte, sodass die Wände begannen zu zittern. „Du lieber Himmel", rief der Doktor überrascht, „es scheint fast, als würden die Götter einen Streit ausfechten." Holmes lief vorbei am knisternden Kamin und den aufgetürmten Bücherstapeln hin zum Fenster, an dem bis zuletzt noch sein Freund Watson gestanden hatte, und öffnete es, sodass die Regentropfen die Gelegenheit nutzten, hineinzuschlüpfen und das Tosen des Wetters nun so laut war, dass sich die beiden Herren beinahe durch Rufe verständigen mussten. „Nicht nur die, werter Freund", rief Holmes in der Lautstärke gegen den Wind ankämpfend dem Doktor zu, „offenbar lockt das Wetter auch zwielichtige Gestalten an". Er streckte den Kopf hinaus, den tosenden Sturm und die Regenmassen ignorierend, behielt diese Position für wenige Sekunden bei, schüttelte verärgert den Kopf und schloss das Fenster wieder. Seine Haare waren vom Wind und der Nässe verwirbelt worden, sein hageres Gesicht feucht, sein Kragen triefte, dass sich unter ihm eine Wasseransammlung zu bilden begann. „Meine Güte, Holmes!", rief der Doktor, „was ist denn nur in Sie gefahren? Und was meinen Sie mit ‚zwielichtige Gestalten'?" „Nun, damit meine ich, dass auf unserer Straße gerauft wird, und ganz offenbar stellt den Anlass für die Rauferei eine kleine Truhe." Der Doktor blickte den Detektiv ungläubig an. „Wie möchten Sie denn das bitteschön mitbekommen haben? Wollen Sie mir weismachen, sie hätten durch den tosenden Wind und den Donner die Laute einer Rauferei vernommen?" „Durchaus nicht, Watson, durchaus nicht", antwortete Holmes geduldig. „Doch Sie sehen auf der anderen Straßenseite der Baker Street ebenso wie auf dieser eine Häuserreihe, auf deren Wände das Licht der Laternen scheint, trotz Sturmböen. Und Ihnen wird durch ihre umfangreichen Schulbildung sicherlich bekannt sein, dass sich kein Licht dort befindet, wo Schatten ist..." „Holmes!", rief der Doktor verärgert, halb ernst, halb im Scherz. „Nun Doktor, und wenn eine Rauferei auf offener Straße stattfindet, so ist es möglich, dass, stehen die involvieren Personen günstig, sie das Licht der Laterne abschirmen und für den aufmerksamen Beobachter das Schauspiel durch Schattenspiele an der Hauswand sichtbar wird, die ebendiese Laterne bescheint." Jetzt grinste der Doktor und blickte selbst zu der genannten, gegenüber liegenden Hauswand. „Ich fürchte jedoch Holmes, bei all dem Scharfsinn führt diese Erkenntnis nun doch ins Nichts, schließlich verziehen sich Ihre Rabauken gerade." Holmes ließ sich erneut in seinen Sessel fallen, zog einmal genüsslich an seiner Pfeife und sagte anschließend: „Nicht, mein werter Watson, wenn der Auslöser des Streits sich nach wie vor in unserer guten Baker Street befindet, während die Streithähne wiederum dabei sind, ihre Kleidung zu trocknen, und zwar in den eigenen vier Wänden." Watson staunte. „Wie wollen Sie das wissen? Haben Sie nun doch etwas vom Streit mithören können?" Jetzt wurde Holmes leicht ärgerlich: „Natürlich nicht, Watson. Aber Sie haben doch eben die Hauswand inspiziert. Ist Ihnen da nichts aufgefallen?", und fuhr selbst fort, als der Doktor in fragend ansah, „Herrgott, die Herren stritten sich um eine Truhe, ganz klar zu erkennen an den schnellen und unkontrollierten Bewegungen sowie den nach oben gestreckten Armen, wenn eine Partei diese Truhe in Händen hielt. Glauben Sie wirklich, dieser Streit wäre beendet worden, hätte einer der Männer die Truhe einstecken können? Glauben Sie wirklich, wäre ihnen die Truhe nicht abhandengekommen, hätten Sie schleichend die Baker Street verlassen, und zwar hübsch nebeneinander? Herrgott Watson, benutzen Sie Ihren Verstand!" Der Doktor geriet ins Grübeln. „Nun Holmes, Sie mögen Recht behalten. Doch was in Dreigottesnamen befindet sich dann in dieser Truhe?" Holmes verfiel wieder in seinen nachdenklichen Zustand und sagte, halb zum Doktor, halb zu sich selbst: „Oh, ich bin mir sicher, davon wird uns Mrs. Hudson morgen Bericht erstatten." Der Doktor griff zu seiner Teetasse und lehrte sie, auf nachfolgende Fragen verzichtend.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 26, 2022 ⏰

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