"Ich muss hier raus!"

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Da stand ich nun vor seinem riesigen Bett und überdachte all meine bisherigen Lebensentscheidungen. Vor mir lagen ein schwarzes Top, ein sehr kurzer schwarzer Faltenrock, kniehohe Strümpfe mit Spitzenrand und ein Haarreif mit einer überdimensional großen Samtschleife.Mein Name ist Jisung, ich bin 22 Jahre alt und männlich. Wieso ich vor diesem Haufen unmöglicher Kleidung stand? Mein 24 jähriger Mitbewohner hatte mir so eben befohlen, die Sachen anzuziehen.

Um zu erklären, wie es dazu kommen konnte, muss ich ein paar Wochen vorher beginnen zu erzählen.
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Mein Tagesablauf bestand aus ziemlich wenigen Punkten. Ich stand auf, wenn ich wach wurde, aß, wenn ich hungrig war und schaute mir mindestens den halben Tag lang irgendwelche belanglosen Dokumentationen auf YouTube an. Arbeiten ging ich nicht und ich machte auch kein Studium. Wieso ich das nicht tat? Nun ja, meine Eltern hatten nicht gerade wenig Geld und ich gestehe offen, dass es für mich kaum etwas Unangenehmeres gab, als mich unter Menschen aufzuhalten. Menschen machten mir unglaublich viel Angst. Sie stellen dir Fragen, sie zeigen dir eine halbe Stunde lang ätzende Urlaubsbilder, nach denen du nicht gefragt hast, geben dir ungefragt dämliche Ratschläge, die du nie haben wolltest. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich unter Menschen verhalten musste, um nicht unangenehm aufzufallen. Nachdem ich über viele Jahre immer wieder auf Ablehnung stieß, beschloss ich einfach, dass ich allein in meinem Zimmer besser aufgehoben war.

Das Einzige was nervte: Meine Eltern. "Du musst auch mal vor die Tür gehen!", "Du musst dich mal entscheiden, was du aus deinem Leben machen willst!", "So findest du nie eine Frau!". Der letzte Punkt war der Beschissenste. Ja, man kann es sich nun schon denken - Ich stehe nicht auf Frauen. Nicht mal ein kleines bisschen. Ich habe mich bisher aber noch nicht getraut, auch nur einer Menschenseele davon zu erzählen. Freunde hatte ich sowieso keine. Ich hatte zwar in meinem letzten Schuljahr ein paar Leute an meiner Seite, die fleißig versprachen, dass man sich auch nach dem Abschluss noch regelmäßig sehen würde, aber das hatte sich schon nach ein paar Monaten erledigt.

Ich lag in meinem Bett und spielte Animal Crossing auf meiner limitierten Pokémon-Switch, da hörte ich ganz zufällig meine Eltern in der Küche diskutieren. "Mir reicht es langsam mit ihm! Es kann doch nicht ewig so weitergehen.". Ich sperrte meine Konsole und zog mir mein Kissen ins Gesicht. Ich hatte herzlich wenig Lust, mir das Gejammer schon wieder anzuhören. Das ging seit Wochen so. Wenn aus mir etwas werden sollte, hätten meine Eltern mir vielleicht nicht mein Leben lang beibringen sollen, dass ich genau gar nichts tun musste, um alles zu bekommen, was ich mir wünschte. Sind wir mal ehrlich, sie taten es mit Sicherheit nur, um ihr schlechtes Gewissen auszugleichen, weil sie mich ständig wegen ihrer scheiß Arbeit allein ließen. Welches Kind hat schon Lust, etwas mit seinen Eltern zu unternehmen, geschweige denn mal in den Arm genommen zu werden. Ich will jetzt nicht sagen, dass es mir großartig an irgendwas gefehlt hatte. Aber es wäre eben auch mal nett gewesen, mit 6 Jahren nicht allein im Haus zu sein, wenn es draußen schon dunkel war.

Ich hörte die Schritte meines Vaters auf dem Flur und wusste schon ganz genau, was gleich kommen würde. Zu meiner Überraschung ging meine Zimmertür jedoch nicht auf. Ich lauschte der Stille und war noch überraschter, als die Schritte scheinbar wieder in die andere Richtung wanderten. Ich nahm das weiche Kissen aus meinem Gesicht und schaute ungläubig zur Tür. Nein, da stand wirklich niemand. Ich wartete gespannt auf irgendein Geräusch und wurde schon fast misstrauisch. Holte er etwa gerade ein großes Küchenmesser, um mir den Gar auszumachen? Ich setzte mich vorsichtshalber schon mal auf und schaute mich in meinem Zimmer um, mit was ich mich im Zweifelsfall notdürftig verteidigen konnte. Ich könnte meinen Vater zwar mit vielen Kuscheltieren abwerfen, ansonsten fand ich aber nichts Effektives. Mir reichte es so langsam auch mit den beiden. Ständig wurde über mich geschimpft, ständig musste ich mir dieselben nervigen Sätze anhören, ständig wurde mein sowieso schon kleines Selbstbewusstsein mehr und mehr niedergetrampelt. Ich fasste einen Entschluss. Wenn wir uns hier sowieso nur alle gegenseitig auf die Nerven gehen, dann musste ich mir eben eine andere Bleibe suchen. Aber wie machte ich meinen Eltern das klar? "Hey, wir haben doch alle keinen Bock mehr auf einander.", war vielleicht etwas zu viel des Guten. Ich überlegte und überlegte, während mir schon wieder ihre Sätze durch den Kopf gingen: "Mach doch mal was aus deinem Leben!". Das war es! Ich müsste den beiden doch einfach nur sagen, dass ich ausziehen wollte, um endlich auf mich gestellt zu sein und endlich zu einem geschätzten Mitglied der Gesellschaft werden wollte. Der Plan war genauso simpel wie perfekt! Sofort nahm ich mein Handy zur Hand und suchte mehrere Plattformen nach Anzeigen wie "Mitbewohner gesucht" durch. Eigentlich war es mir so ziemlich egal, wie mein Mitbewohner war, ich klickte mich einfach durch ein paar Anzeigen und nahm die Nächstbeste, die nicht völlig schräg klang:

"Mitbewohner / WG Partner gesucht,

habe in meiner etwa 80m2 großen Wohnung ein Zimmer frei. Wohnzimmer, Küche und Bad dürfen selbstverständlich mitbenutzt werden. Ich suche jemand Ordentliches, der pünktlich seine Miete zahlt und mir nicht ständig auf die Nerven geht."

Perfekt! An Geld fehlte es mir nicht und ich hatte sowieso nicht vor, mein Zimmer unnötig zu verlassen, um mit irgendwem auf "gute Freunde" zu machen. Ich wollte einfach meine Ruhe, mehr nicht.

Ich speicherte die Anzeige, ging im Kopf schon einmal meine nächsten Sätze durch, die ich meinen Eltern gleich erzählen würde. "Zieh es einfach durch, Jisung, dann hast du deine Ruhe!". Das motivierte mich tatsächlich und ich ging so selbstsicher, wie es eben möglich war, los. Als ich meine Zimmertür erreichte, hörte ich schon die Stimmen meiner Eltern. Die Situation schien angespannt. Egal! "Zieh es durch, dann hast du wirklich bald deine Ruhe.". Keine Diskussionen mehr über mich, kein fremdes Gezanke mehr, kein "Du musst endlich mal was aus deinem Leben machen". Ich riss meine Zimmertür auf und zwang mich regelrecht, zur Küche zu gehen.

Plötzlich war es still. Meine Eltern hatten ein perfektes Gespür dafür, wann sie aufhören mussten, über mich zu sprechen. Sie schauten mich fragend an, denn ich kam nur allzu selten freiwillig aus meinem Zimmer, wenn ich wusste, dass sie zuhause waren. Als ich die gefüllte Kaffeekanne sah, nahm ich mir eine Tasse aus dem hochglänzenden Hängeregal. Während ich die Tasse mit dem dampfenden Kaffee füllte, fragte ich einfach so in den Raum hinein: "Und? Alles gut bei euch?". Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie meine Mutter fragend meinen Vater anschaute. Kein Wunder, normalerweise holte ich mir nur schnell irgendwas zu essen und verschwand wortlos so schnell, wie es ging wieder. Nach einer nervig langen Pause brachte meine Mutter endlich einige Worte über die Lippen: "Ja, Schatz. Alles gut bei uns.". Bei dem Wort "Schatz" zog sich in mir alles zusammen. Ich hasste es, wenn sie mich so nannte. "Schön, schön.", antwortete ich nun doch etwas vom Mut verlassen. Doch dann dachte ich noch einmal daran, dass ich sie bald beide los sein könnte und riss mich zusammen. Ziemlich überstürzt sagte ich dann nervös aus dem Nichts heraus: "Ich will ausziehen.". Ich drehte mich zu meinen Eltern um und war schon auf alle möglichen Antworten gefasst. Wieder herrschte Stille, meine Eltern sahen sich erneut völlig ratlos an. "Du möchtest ... ausziehen?", wiederholte meine Mutter ungläubig. "Ja, ich denke, es ist nun wirklich ... an der ... an der Zeit, dass ich ... naja ... eben ausziehe.", stammelte ich so vor mich hin. Ich wollte ganz gelassen einen Schluck Kaffee nehmen, der jedoch noch so kochend heiß war, dass ich ihn sofort zurück in die Tasse spuckte. Das hatte nun mein letztes bisschen Gelassenheit ruiniert und ich wäre fast schon einfach wieder zurück in mein Zimmer gegangen, um mich unter meiner Bettdecke zu verkriechen, wie ein verängstigter Hund an Sylvester. Aber dann hörte ich die erlösenden Worte meines Vaters. "Ja, mach, ähm ... mach nur!", seine Worte wurden immer lauter und er wiederholte noch einmal: "Mach nur, Sohn, mach nur!". Ich muss zugeben, ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber damit bestimmt nicht. Irgendwie kränkte es mich, wenn ich so darüber nachdachte, dass mein Vater mich anscheinend so schnell wie möglich loswerden wollte. Das Gespräch war damit auch beendet, mir wurden keine Fragen mehr gestellt, mein Vater sagte einfach nur "Sag uns einfach, was du brauchst und wenn wir dir beim Tragen helfen sollen.", während er mich in mein Zimmer schob, wo ich scheinbar augenblicklich mit dem Packen anfangen sollte. Die Tür schnellte hinter mir zu, ein paar Sekunden später noch einmal auf und eine große Reisetasche flog nur knapp an mir vorbei. "Wow. Das war einfach.", sagte ich zu mir selbst. Ich wollte schon mit dem Packen anfangen, da fiel mir auf, dass ich der Person von der Anzeige ja noch gar nicht geschrieben hatte.
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"Be a good boy." - Minsung -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt