"Ruhe, ich komme!"

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Fünf verdammt lange Stunden saß ich auf der Rückbank unseres Luxusschlittens und musste mir anhören, wie meine Eltern abwechselnd übertrieben sentimental und dann doch wieder völlig euphorisch darüber sprachen, dass ihr "kleiner Schatz" nun in die große weite Welt aufbrechen wollte. Ich hatte beim Durchsuchen der Anzeigen überhaupt nicht darauf geachtet, wie weit die Wohnung denn eigentlich von meinem Elternhaus entfernt war. Je mehr meine Eltern jedoch sprachen, desto erleichterter war ich, wenn ich über diese scheiß fünf Stunden Fahrt nachdachte. Sie würden mich dank ihres ganzen Stresses auf der Arbeit vielleicht einmal im Jahr besuchen kommen. Damit konnte ich nur allzu gut leben.

Wir fuhren durch so viele Straßen, ich hatte überhaupt keinen Überblick, wo wir waren und wie man hier jemals wieder rausfinden sollte. Aber das war ja nicht mein Problem. Ich wusste nur, dass ich demnächst endlich meine verdiente Ruhe hatte. Vor Allem und Jedem. Aus den Nachrichten, die ich mit L.M. austauschte, konnte ich nicht viel mehr rauslesen, als dass die- oder derjenige anscheinend gern seine Ruhe und einen Putzfimmel hatte. Mir wurden genau drei Fragen gestellt: "Sind Sie bereit, die Wohnung rund um die Uhr sauber zu halten?", "Sind Sie Musiker oder anderweitig nervig?" und "Sie können auch jeden Monat pünktlich zahlen?". Zwei der drei Punkte konnte ich immerhin ehrlich beantworten, das war doch ein guter Schnitt! Ich dachte mir, dass es ja wohl kein Problem darstellen sollte, wenn ich mein eigenes Zimmer nicht so sauber hielt. Jetzt mal im Ernst, das Leben ist einfach zu kurz, um ständig sämtlichen Scheiß wegzuräumen. Während ich mir zum sonst-wievielten mal in meinem Leben vornahm, einfach etwas ordentlicher zu werden, fuhr mein Vater in eine große Parklücke vor einem weiß gestrichenen Wohnblock und stellte den Motor des Autos ab. Anscheinend waren wir da. Ich schaute etwas misstrauisch aus dem Fenster, bevor ich ausstieg. Es sah hier gar nicht so übel aus. Anscheinend hatte ich das Glück auf meiner Seite und bin nicht in irgendeiner verrückten Gegend gelandet, in der man nach 20 Uhr nicht mehr aus dem Haus gehen konnte. Stolz und Erleichterung überkamen mich. Ich nahm gerade den Griff der Tür in die Hand, da sagte mein Vater: "Also, ich überweise dir jeden Monat Geld. Davon musst du Miete, Nebenkosten, Essen und Klamotten bezahlen. Teil es dir ein, du willst schließlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.". Noch bevor er eine Rede anstimmen konnte, dass ich mir so schnell wie möglich einen Job suchen sollte, um zu erleben, was es heißt, frei und unabhängig zu sein, sprang ich schon aus der Tür, eilte zum Kofferraum, nahm meine zwei bis obenhin vollgestopften Taschen und schmiss die Klappe des Kofferraums schnell zu. Ich drehte mich nicht mehr um, ich hob nur noch kurz die Hand, um meinen Eltern zu signalisieren, dass sie nun fahren könnten. Da hörte ich auch schon den Motor unseres Autos anspringen und ich hätte schwören können, dass ich Freudenschreie meiner Eltern vernehmen konnte. Musste ich mir eingebildet haben. Oder doch nicht? Ach, es war mir egal. Ruhe, ich komme!

Zielstrebig ging ich auf das Haus zu. Nummer 325 war es - Zumindest wurde mir das von L.M. so gesagt. Die richtige Eingangstür hatte ich schonmal gefunden, ich hatte jedoch völlig vergessen, nach dem Nachnamen von L.M. zu fragen, sodass ich nun fragend vor den ganzen Klingeln stand. Ich schaute mir alle Schilder an und stellte begeistert fest, dass hier nur ein einziger Nachname stand, der mit L begann. "Lee", sprach ich leise den Nachnamen aus. Ich klingelte und kurze Zeit später hörte ich das Surren der Tür, die ich nun einfach aufziehen konnte. Ich trat in den hellen Hausflur und schaute in der Mitte der Wendeltreppe nach oben. Wie viele Stockwerke es hier wohl gab? Ich hatte von außen gar nicht darauf geachtet. Ich hörte, wie sich eine Wohnungstür öffnete, also nahm ich mutig die ersten Stufen der Treppe. Ich lief und lief und fragte mich, wie weit ich wohl nach oben laufen musste. Jede Tür, an der ich vorbei ging, war verschlossen. Aber ich hatte doch gehört, wie eine Tür geöffnet wurde?! Irgendwann waren die Treppen zu Ende und ich stand fragend im Hausflur. Dann hörte ich endlich eine Männerstimme: "Sie sind zu weit gelaufen.". Das konnte doch nicht sein scheiß Ernst sein. Hielt er sich für lustig, mich mit meinem Gepäck einmal die ganzen Treppen hochlaufen zu lassen, nur um mir dann zu sagen, dass ich wieder umdrehen sollte? Ich schloss meine Augen, atmete kurz einmal tief durch und trat meinen Weg nach unten an. Am liebsten hätte ich gerufen "Sagen Sie mir dieses mal bitte rechtzeitig Bescheid, wann ich stehenbleiben kann?", doch ich verkniff es mir lieber. Drei Stockwerke weiter unten fand ich endlich die offene Tür. Zumindest war sie einen Spalt weit geöffnet. Dahinter stand eine Gestalt, die aus großen dunklen Augen vorsichtig Ausschau nach mir hielt. "Sind Sie Han Jisung?", drang es mir leise entgegen. "Ja, genau der bin ich. Es freut mich, Sie kennenzulernen!", während ich das sagte, verbeugte ich mich höflich. Die Tür schwang nun komplett auf und ich konnte meinen anscheinend neuen Mitbewohner sehen. Er sah gut aus. Er war etwas größer als ich, sportlich schlank, grau gefärbte Haare und große, dunkle Augen, in denen ich mich glatt hätte verlieren können.Mit einer Handbewegung machte er mir verständlich, dass ich eintreten sollte. Ich zog noch schnell meine Schuhe aus, dann folgte ich ihm und schloss hinter mir die Tür. Meine Schuhe behielt ich einfach in der Hand.

Ich folgte ihm, bis er plötzlich abrupt stehen blieb und sich schnell zu mir umdrehte. Mir stockte leicht der Atem, denn ich sah ihm aus Versehen wieder direkt in seine großen, dunklen Augen. Er sagte kein einziges Wort, deutete nur auf eine Tür. Diese schaute ich kurz an, dann warf ich ihm einen fragenden Blick zu. "Das ist dein Zimmer.", sagte er mit monotoner Stimme. Ich hob den Kopf und senkte ihn danach wieder, um ihm verständlich zu machen, dass ich ihn verstanden hatte. Danach herrschte peinliche Stille, bis er endlich sagte: "Willst du vielleicht deine Taschen da reinstellen oder nimmst du die lieber überall hin mit?". Bis eben war ich ausnahmsweise mal nicht verunsichert gewesen, was sich durch seine Frage jedoch schlagartig änderte. Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken. Ich versuchte das Ganze gekonnt zu überspielen, was mir mehr schlecht als recht gelang. "ja ... nein ... ich ... ja, ich würde gern meine Sachen abstellen." Ich kratzte mich verunsichert am Hinterkopf. "Ja, dann los. Ich will dir schnell alles zeigen, ich muss zur Arbeit!", sagte er. Sofort ging ich zu der Tür, hinter der sich mein zukünftiges Zimmer verbarg. Ich öffnete sie hastig und stellte meine Taschen und meine Schuhe einfach auf den Boden, ohne mir das Zimmer anzusehen, ich wollte ihn ja schließlich nicht unnötig lange von seiner Arbeit abhalten.

Als ich die Tür halb geschlossen hatte, drehte er sich um und lief den Flur hinunter. Ich folgte ihm, ohne weiter darüber nachzudenken. "Hier ist die Küche. Du kannst benutzen, was du brauchst. Also an Utensilien. Kauf dir dein eigenes Essen, das ist nicht in der Miete mit inbegriffen.", murmelte er vor sich hin. Ich hätte ihm ja etwas geantwortet, aber er brach schon eilig zum nächsten Raum auf. An einer Tür ging er jedoch vorbei, was mich vermuten ließ, dass dahinter sein Zimmer war. Während ich mir in meiner Fantasie ausmalte, wie es wohl darin aussah, kam von ihm schon die nächste Erklärung, die kürzer nicht hätte sein können: "Wohnzimmer.". Ich warf nicht mal einen kurzen Blick hinein, als er mich ansah, nickte ich und er zog an mir vorbei, Richtung Haustür. Ich drehte um, ohne einen Blick in das Wohnzimmer geworfen zu haben. Bisher kannte ich also den Flur und mehr nicht. Ich folgte ihm möglichst unauffällig und blieb mit einigem Abstand zu ihm stehen, als er an der letzten Tür anhielt. "Das hier ist das Badezimmer, das konnte man sich ja jetzt denken. Ich habe dir Platz für deine Sachen gemacht. Stell rein, was du willst, ich werde nichts von deinem Kram benutzen.". Ich schaute ihn an, blieb schon wieder für ein paar Sekunden an seinen Augen hängen, bis mich meine Schüchternheit überkam und ich einfach nur vor mich auf den Boden herab sah. "Du bist anscheinend nicht sonderlich gesprächig." Noch bevor ich antworten konnte, zog er schnellen Schrittes an mir vorbei, schnappte sich einen schwarzen Mantel und riss schon die Wohnungstür auf. "Du kommst ja bestimmt allein zurecht, ich muss jetzt los.". Rumms - Da fiel die Tür auch schon laut ins Schloss. Erst jetzt merkte ich, dass ich die letzten Sekunden anscheinend komplett vergessen hatte, zu atmen. Ich holte also ein paar mal tief Luft. Dann wandte ich mich der ersten Tür zu. Dahinter lag mein Zimmer. Ich öffnete die Tür langsam und streckte nur meinen Oberkörper durch den hölzernen Türrahmen. Ich stockte kurz, weil ich überrascht war, die groß und hell der Raum doch war. "Der Hammer", dachte ich kurz, bis mir auffiel, dass das Zimmer komplett leer war. "Scheiße!", ich hatte nicht eine einzige Sekunde darüber nachgedacht, dass ich ja so etwas wie Möbel gebrauchen könnte.

Nun, da mein Mitbewohner weg war, der mir nicht einmal seinen Namen verraten hatte, wollte ich mich in Ruhe nochmal in der Wohnung umsehen. Als er noch da war, war es mir einfach nicht möglich, da meine Unsicherheit mich gefühlt an den Fußboden fesselte. Ich ging also den Flur entlang und schaute in die Küche. Es sah ähnlich aus, wie bei mir ... ich meine, wie bei meinen Eltern zuhause. Weiße Schränke in Hochglanzoptik, eine fast schwarze Arbeitsplatte. Die Hängeschränke hatten Glasfronten, durch die ich das nahezu perfekt aufgereihte Geschirr sehen konnte. Für Küchen konnte ich mich nicht wirklich begeistern, mir war nur wichtig, dass ich irgendwie irgendwas zu essen finden konnte, was man nicht erst mühsam drei Stunden lang zubereiten musste. Ich zog also weiter auf meiner privaten (zweiten) Roomtour. Ich wollte das Wohnzimmer begutachten. Da die vorherigen Räume alle unglaublich hell waren, ging ich davon aus, dass auch das Wohnzimmer so aussah, ich stellte jedoch das Gegenteil fest. Es war relativ dunkel, in der Ecke mir gegenüber stand ein riesiges Sofa in L-Form. Ich war darüber sehr erleichtert, denn ich wollte ungern die ersten Nächte auf dem Fußboden schlafen, bis ich mir irgendwo ein Bett besorgt hatte. Das Wohnzimmer war in beruhigenden Brauntönen tapeziert, was mir wirklich gut gefiel. Mir blieb nun also nur noch das Badezimmer, auf das ich total gespannt zusteuerte. Ich öffnete die Tür und bekam vor Staunen meinen Unterkiefer einfach nicht mehr dahin zurück, wo er eigentlich sitzen sollte. Ich war ja von meinem Elternhaus nun wirklich nichts Schlechtes gewohnt, doch war ich völlig aus dem Häuschen, als ich die riesige Eckwanne mit Whirlpooldüsen erblickte. Vielleicht schlief ich lieber hier als auf dem Sofa?

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"Be a good boy." - Minsung -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt