20. Oktober 2022: Willkommen an Bord

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Ich wusste nicht, wie lange ich dahin getrieben bin, in der tiefen Schwärze der weiten stillen See. Die Wellen trugen mich mit und ich ließ es geschehen. Ich spürte weder Angst noch Schmerz, nur eine bleierne Schwere.

„Willkommen auf meinem Schiff!"

Eine melodische, aber gleichzeitig eiskalte Stimme durchdrang die Dunkelheit um mich herum und verstärkte das Gefühl, einsam in den tiefen Weiten des dunklen Ozeans zu treiben ...,

so mühelos,...

von den Wellen und dieser bezaubernden Stimme getragen ...

ich wünschte, sie würde noch etwas sagen.

Ihr Klang weckte Erinnerungen ...
...an etwas ..., oder nein,

an jemanden.

Und der plötzliche Gedanke an eine mit schwarzer Tinte auf helle Haut gezeichnete Seekarte, an tiefblaue Haare und vor Geheimnissen dunkel schimmernde Augen brachte mich auf einen Schlag zurück ins Hier und Jetzt.

Ich trieb nicht im Wasser - meine Kleidung war trocken, aber meine Fingerspitzen berührten nicht den glatt gebohnerten, nach Zitronenputzmittel müffelnden Linoleumfußboden der Jugendherberge, stattdessen streiften sie über die unebenen Rillen gemaserten, leicht feuchten Holzes.

Statt Zitrone drang der Geruch von salziger Meerluft und Seetang in meine Nase. Ich öffnete die Augen und sah mich langsam um. Mein Kopf war benebelt von dem Rum. Es dröhnte hinter meiner Stirn und alles schwankte. Doch was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren ...

Vor mir stand der junge Verkäufer aus dem Spätshop.

Er sah verändert aus, aber er hatte dieselbe Präsenz und diese Stimme hätte ich unter Millionen wiedererkannt.

Seine Haare, die vorhin noch atlantikblau waren und ihm tief in die Stirn hingen, sodass sie fast bis zu seinen Wimpern reichten, glänzten teufelsschwarz und waren im Sleek Look ordentlich nach hinten gestylt.

Sein rechtes Auge war hinter einer Augenklappe verborgen. Im Kontrast dazu loderte in seinem anderen Auge eine seltsame Begierde, die mich drängte, meinen Blick schnell weiterwandern zu lassen.

Als ich den silbern aufblitzenden Anker an der feingliedrigen Kette an seinem linken Ohr erkannte, hatte ich die Gewissheit, dass mir meine Fantasie keinen Streich spielte. Er war es. Er war der Verkäufer aus dem Spätshop.

In meinem Kopf schwappten die Fragen, wie Wellen in einem künstlichen Wellenbad wild durcheinander. Wieso war er hier? Warum waren wir nicht mehr in der Jugendherberge? Wo zum Teufel waren wir überhaupt? Wie hatte er so schnell so krass sein Aussehen verändern können?

Aber ich fand keine Antworten, denn kaum hatte sich eine Frage deutlich gebildet und Form angenommen, kam die nächste und brach über sie hinweg.

Meine Augen hingen derweil wie angeklebt an ihm fest.

Wenn er vorhin in seinem Leinenhemd wie ein Schauspieler aus einem Theaterstück gewirkt hatte, stand er jetzt wie ein waschechter Hollywood Star vor uns, wenn auch ein aus der Zeit gefallener Hollywood Star.

Seine Garderobe strahlte vor Eleganz und verlieh ihm eine fast schon königliche Anmut. Die knielange Hose und die taillierte Jacke aus schwarzem Samt schmiegten sich an seinen Körper und umschmeichelten ihn, wie eine Katze ihren Besitzer.
Die dunkelblauen Strümpfe aus edler Seide, der schwarze Filzhut und der bestickte Hemdkragen, der unter der Jacke an seinem schlanken Hals hervorblitzte, gaben seinem Outfit einen Anstrich purer Extravaganz.

Verstörend waren die weißen Schnürungen an seiner schwarzen Jacke, die auf beiden Seiten über seine Schultern verliefen. Sie leuchteten in der Dunkelheit wie kleine weiße Knochen.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt