Kapitel 60 - Tim

27 8 0
                                    

Es dauerte eine Weile, bis in der Sozialstation Ersatz für Sonja gefunden wurde. Ein 53jähriger Arzt, Dr. Tim Berger, frisch geschieden nach einem ziemlich heftigen Rosenkrieg, trat zwei Monate nach Sonjas Tod seinen Dienst an. 

Er wollte einen Neuanfang wagen, hatte mit seiner Praxis genug Geld gemacht, verspürte das dringende Bedürfnis, noch einmal etwas in seinem Leben an die Gesellschaft zurückzugeben. Lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, zu Ärzten ohne Grenzen zu gehen, aber dafür war er eigentlich zu alt.

Außerdem wollte er den Kontakt zu seinen drei Kinder nicht ganz verlieren, auch wenn die sich auf die Seite ihrer Mutter gestellt hatten, zurzeit jedes Treffen mit ihm ablehnten.
Gut, er hatte einen Fehler gemacht, hatte sich mit seiner Assistentin eingelassen, aber nur, weil er zu Hause an der Kälte seiner Frau beinahe erfroren wäre. Für sie zählten nur Geld, Designer-Klamotten, gesellschaftliches Ansehen, aber nicht Wärme, Nähe, Zufriedenheit.
Sie jetteten um die Welt, und er hätte so gerne einmal einen ruhigen Urlaub verbracht, um Kraft zu tanken.

Die Kinder, zwei Mädchen und ein Junge wurden zu Upper-Class-Kids erzogen, die hohe Ansprüche stellten. Die Jüngste hatte gerade mit Ach und Krach Abitur gemacht, musste jetzt erst einmal ein Jahr chillen!
Nun, er hatte zwei Drittel seines Vermögens und das Haus verloren, aber es war ihm egal.
Er brauchte eine neue Aufgabe, einen neuen Sinn in seinem Leben. Mit dem Gehalt würde er alleine schon auskommen.

Sonjas Bild hing in der Halle der Sozialstation, immer stand ein Strauß Blumen davor, immer brannten Kerzen.
Vage kam ihm ihr Gesicht bekannt vor.
Jeden Tag stand er etwas länger davor, grübelte, woher er sie kennen könnte.
Wahrscheinlich vom Studium, dachte er schließlich. Sie war eine schöne Frau gewesen, vielleicht hatten sie sich auch auf einer Fete getroffen!

Ihr Schicksal berührte ihn irgendwo tief in sich. Sie war ein so wertvoller Mensch gewesen! Warum hatte gerade sie auf so schreckliche Art und Weise ihr Leben verlieren müssen?
Felix fand nach Wochen die Kraft, am Arbeitsplatz seiner Mutter ihre persönlichen Sachen abzuholen.
Alle Mitarbeiter umringten ihn, sprachen liebevoll von seiner Mutter, drückten ihr Mitgefühl aus.
Am Schreibtisch seiner Mutter saß ihr Nachfolger, der ihn aufrichtig berührt ansah und ihm voll Mitgefühl die Hand drückte. Seine knallgrünen Augen hielten Felix' Blick seltsam fest, seine Stimme klang irgendwie vertraut.

Dr. Berger sah Felix verwundert an. Das war der Sohn von Frau Dr. Steiner?
Sie schien nicht alt genug gewesen zu sein für einen 31jährigen Sohn! Sie hatte ihn wohl sehr jung bekommen!
Er bat Felix, sich zu setzen, wusste nicht, warum eigentlich.
Bald waren die beiden in ein angeregtes Gespräch vertieft.
„Dr. Steiner? Sind Sie ein Kollege?" fragte Tim interessiert.
„Nein, ich bin Informatiker! Ich habe eine kleine Firma!" berichtete Felix.
Nach ein paar unverfänglichen Themen konnte Tim nicht anders, als direkt zu fragen.
„Und Ihr Vater?"
Felix lächelte. Er hatte kein Problem damit, ohne Vater aufgewachsen zu sein.

„Er war ein One-Night-Stand auf einem Rock-Festival!" erklärte er. „1977!"

Und plötzlich rauschte das Blut in Tims Ohren.
1977!
Sonja!
Ein wunderschöner Tag und eine heiße Nacht!
Tanzen, küssen, lieben!
Ein bezauberndes, junges Mädchen, das verschwunden war, bevor es ihm ihre Nummer oder Adresse geben konnte, bevor er sie danach fragen konnte.

Ihr Vater hatte sie abgeholt, er selbst war in der Schlange am Kiosk gestanden, ewig! Wollte Kaffee und Croissants holen, war dem Auto noch nachgelaufen, mit dem sie aus seinem Leben verschwunden war.
Eine Regensburger Nummer, das hatte er noch gesehen. Er war wochenlang durch alle Clubs und Lokale der Stadt gezogen, hatte sie gesucht.

Dann waren die Semesterferien vorüber, er musste nach München an die Uni zurück. Er hatte eine Reihe von Mädchen, er war ein hübscher Kerl gewesen.

Der Hass wird nicht siegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt