Mir war kalt. Durch die geöffneten Fenster pfiff kalter Novemberwind und die eisige Kälte kroch unter meine Haut. Ebenso kalt waren meine Gedanken, nicht unüblich zu dieser Jahreszeit, sie brachte mich oft zum Nachdenken. Wer bin ich wirklich? Bin ich gut genug? Ergibt es Sinn weiterzumachen? Was ist Sinn? Ich weiß es nicht. Ich wusste nicht viel, nur dass ich sie morgen wieder sehen würde. Ein wohliges Gefühl breitete sich in meinem kalten Körper aus, auch das war nicht unüblich, ich mochte sie sehr. Meine Blicke schweiften nach draußen, leichter Schneefall hatte eingesetzt und hüllte die Baustelle in eine weiße weiche Decke. Diese Baustelle, war eigentlich unsere Schule, doch das was man sah, waren nur, noch nicht fertige Gebäudeteile. Ein lautes Scheppern riss mich aus meiner Tagträumerei und brachte mich zurück, wo ich wirklich war, in das nicht weniger trostlose Klassenzimmer. Eingeengt von weißen Wänden, umgeben von weißen Tischen auf grauen Stühlen. Ruhig wanderten meine Augen nach links, meine Vermutung bestätigte sich, das Scheppern war ausgelöst worden von der metallenen Trinkflasche einer meiner Kurskollegen, die umgefallen war, kurz erhoben sich aufgebrachte Stimmen und beschwerten sich über die Flasche, sie ist in der Tat zu oft, zu laut umgefallen. Doch schon bald übernahm wieder die Monotonie des Unterrichts, ich versuchte gar nicht zu folgen, ich stieg schon vor mehreren Stunden aus, keine Chance noch irgendetwas aufzuholen und bevor ich wieder in meine Gedankenwelt flüchtete, begann ich mit dem Stuhl zu schaukeln. Es war weniger ein Schaukeln und mehr den Stuhl in eine Schieflage bringen, aber das ist hinfällig; elitärer Sprachgebrauch war in meinen Augen ein Unding des neobourgoisen Mittelstand. Auf einen Stuhl in Schieflage zu sitzen war sehr angenehm, dieses Gefühl von Labilität gefiel mir. Es war mir bekannt, denn vor wenigen Jahren hab ich schmerzhaft feststellen müssen, dass Stabilität im Leben nur eine Illusion ist. Seitdem hat sich viel geändert, allen voran meine Ziele, ich wollte ein Leben voll Freude führen und mich nicht mit unwichtigen Dingen beschäftigen. Ein Leben voller Arbeit, die mir keinen Spaß machte, welche grausamere Vorstellung gab es? Ich weiß es nicht. Meine Gedanken schweiften schon wieder weg vom Unterrichtsgeschehen und zurück in die Vergangenheit. Jener Morgen der mich aus meiner kleinen heilen Welt riss und hinein in einen Abgrund voller Fragen. Er beschäftigte mich mehr als er sollte, es wäre genügend Zeit vergangen seit je her, doch mit der Kälte des Winters kaum auch die Kälte in meinem Herzen zurück. Ich wollte davor flüchten schloss meine Augen und lehnte mich zurück. Der Stuhl wurde aus dem Gleichgewicht gebracht und ich fiel. Adrenalin schoss durch meinen Kopf und trieben mir neue und altbekannte Fragen in den Sinn. Was ist geschehen? Ich weiß es nicht. Werde ich auf den Boden knallen und mein Genick brechen? Ich weiß es nicht, doch wäre es schlimm? Für mich sicher nicht, es gab nicht viel was mich hier hielt. Ich hatte schon lange abgeschlossen, wenn der Tod mich holen würde, so soll er kommen. Ich war keineswegs suizidal, ich ließ mich treiben, wohin das Leben mich auch führen sollte aber ich versuchte nicht aktiv es vorzeitig zu beenden. Wo ist meine Familie? Vermutlich beide auf der Arbeit. Doch was wird mit ihnen geschehen? Einen Zweiten verlieren? Werden sie es verkraften? Ich weiß es nicht, aber es lag auch nicht in meiner Kraft noch etwas zu ändern, es war geschehen, wenn ich am Boden liegen würde, werde ich sehen. Meine Gedanken irrten umher. Was wird mit meinen FreundInnen? Ich weiß es nicht, sie würden über mich hinwegkommen. Wohin treibt die Welt ohne mich? Hätte ich etwas ändern können? Was wird geschehen? War ich ein guter Sohn? War ich eine Enttäuschung? Hab ich das Beste aus meinem Leben gemacht? Wo werde ich hinkommen? Wer bin ich? Ist es besser so? Ich weiß dies alles nicht. In meinen letzten Momenten realisierte ich wieder einmal wie nichtig ich doch war. Fast schon lächerlich. Pathetisch. Wann kam endlich der Boden? Der Fall fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich weiß es nicht. Wo war sie? Was sollte aus ihr werden? Wird sie mich vermissen? Ich werde sie vermissen. Ihre goldenen Haare, ihre blauen Augen, ihr süßer Duft. Ein Lächeln formte sich auf meinen Lippen. Ich dachte an ihn. Mein Lächeln weitete sich, die Zeit des Wartens war vorüber ich werde ihn wieder sehen. Bald schon. Ein Krachen. Ich war am Boden angekommen. Schreie in der Ferne. Da stand er, und plötzlich wurde mir warm. Warm wie nie zuvor.
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Fragen
Short StoryDas jugendliche Ich fällt mit seinem Stuhl um und während des Falls kommen in ihm verschiedene Gedanken und vor allem Fragen auf.