Ich überprüfte noch einmal die Halteseile. Sie saßen bombenfest und bewegten sich keinen Millimeter, aber ich hatte das untrügliche Gefühl, dass ich etwas vergessen hatte. Doch was?
,,Toa!" rief eine Stimme hinter mir und ich erkannte sie als die von Papa. Was machte er denn hier? Genervt klammerte ich mich an einen Ast, um meine Nervosität zu überspielen. Dann setzte ich eine nette Miene auf und drehte mich um.
Papa eilte auf mich zu, das Fuchsfell über die Schultern gelegt. Er sah besorgt aus, doch ich konnte im Moment wirklich keine Rücksicht darauf nehmen. Es war wichtig, dass ich Adam zeigte, was er in der Probe zu erwarten hatte. Es würde für ihn nicht leicht werden, besonders weil er kein Wolf war, aber ich war davon überzeugt, dass er es schaffen würde, wenn er sich nur gut genug darauf vorbereitete.
Papa packte mich am Arm. Warum wollten mich nur immer alle aufhalten, wenn gerade etwas Spannendes anstand? Was hatte ich bloß falsch gemacht, dass man mir solche Kontrollfreaks auf den Hals hetzte?
Ich wollte Papas Hand behutsam von meinem Handgelenk lösen, doch er hielt mich weiterhin fest. Wenn er mich nicht ließ, dann war es wirklich wichtig. Ich sprang von dem Ast, auf dem ich gestanden hatte zurück auf die Plattform, die acht Meter über dem Waldboden am Stamm einer dicken Buche befestigt war.
Dann rief ich Adam zu: ,,Wir machen später weiter!" und lief hinter Papa her, der mich auf die Lichtung zum Flachen Stein führte, der wie ein riesiges, graues Ungetüm inmitten der Halbkreise stand. Dort warteten schon ein paar andere hochrangige Mitglieder des Clans. Sie sahen nervös aus, traten von einem Bein auf das andere, kauten an ihren Unterlippen oder kneteten ihre Finger. Meine Güte, die brauchten dringend Therapeuten.Papa stellte mich vor sich und legte seine Hände auf meine Schultern. Ich sah in den Gesichtern der anderen Angst, Staunen und Gleichgültigkeit. Manche sahen einfach nur gelangweilt aus. Ich versuchte, Papas schwere Hand von meiner Schulter zu schieben, doch es war, als klebte sie dort fest wie ein altes Kaugummi. Ich hatte keine Ahnung, was passierte und anscheinend wollte auch niemand mit der Sprache herausrücken, also trat ich einen Schritt vor in die Mitte des Kreises und fragte: ,,Was geht hier vor? Ich verlange eine Erklärung!" Ich versuchte möglichst angsteinflößend auszusehen, doch es gelang mir nicht sonderlich gut. Das merkte ich, als ein kleines Bauernkind an mir vorbeilief, mit dem Finger auf mich zeigte und quietschte: ,,Schaut mal, der Teufel! Lauft um euer Leben!" Alle Kinder im Umkreis von 20 Metern stürmten lachend und gackernd in Richtung Wald, in dem ich jetzt auch lieber sein wollte, als bei diesen alten Opis, deren Tränensäcke traurig herumhingen.
,,Toa, bitte." Papa zog mich zurück an sich und mir wurde plötzlich speiübel. Es lag weder an seinem Geruch, noch daran, dass die kleinen Kinder hinter den Baumstämmen hervorschauten und frech die Zunge herausstreckten. Nein, es war etwas anderes, und ich bemerkte erst, was es war, als unsere Heilerin mit einer dampfenden Schüssel und ein paar stinkenden Kräutern langsam über die Lichtung gezockelt kam. Was hatte sie mit diesem übelriechenden Zeug vor? Musste ich das trinken? Darauf hatte ich aber irgendwie gar keine Lust...
Gegen alle Höflichkeitsetiketten hielt ich mir die Nase zu und versuchte zu flüchten. Doch bevor ich auch nur einen Fuß bewegt konnte, packte mich Papa an den Armen und er ließ auch nicht mehr los. Nicht als ich bettelte, nicht als ich mich freizutreten versuchte. Mist! Er war so stur!
Die Clanmitglieder, die sich schon zuvor um mich versammelt hatten, kamen näher. Sie schauten gespannt, als wäre es das Ereignis des Jahres, dass eine Werwölfin augenscheinlich dazu gezwungen wurde, ein ekelerregendes Gesöff zu trinken.
Sie bildeten einen undurchdringlichen Kreis um mich und einige warfen einen Blick in die Schüssel.Papa flüsterte mir zu: ,,Das ist ein Wahrheitsserum. Für diejenigen, die etwas zu verbergen haben, riecht es richtig scheußlich. Je mehr Geheimnisse man vor anderen hat, desto schlimmer wird der Gestank. Und wenn du es jetzt trinkst, kannst du uns endlich die ganze Wahrheit über diesen Adam erzählen. Wir haben schon lange vermutet, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Jetzt ist das Serum endlich fertiggestellt und wir haben die Chance alle Geheimnisse über Adam herauszufinden. Sei mutig und trink! Dir wird nichts geschehen!"
Immer wenn jemand so etwas sagte, dann endete es nicht gerade toll für den Angesprochenen. Andererseits hatte ich schon oft durch Fenster anderer Leute mit ferngesehen und es gab meist ein Happy End. Was konnte also schon schief gehen?
Ich setzte gerade dazu an, das Serum zu trinken, als ich etwas spürte. Ich konnte nicht mehr klar denken und es war, als schwebte ich wie auf Wolken. Ich sah nicht mehr richtig und verspürte die Lust in einen tiefen Schlaf zu fallen. Aber das ging doch nicht! Ich musste wach bleiben und versuchen, gegen das Wahrheitsserum anzukämpfen. Ich durfte ihnen nicht alles über Adam erzählen!
Auf einmal sah ich alles wieder. Ganz klar. Aber nicht aus meiner Sicht. Ich schwebte über dem Geschehen und beobachtete, wie Papa mir die Schüssel in die Hand drückte. Dann hob ich - nein, mein Körper - die Schüssel an und trank. Derjenige, der gerade ich war, wollte gar nicht mehr aufhören zu trinken, anscheinend schmeckte es besser, als es roch.
Doch die Heilerin schnappte meinem anderen Ich das Gefäß weg und stellte es auf den Boden. Ein Kind rannte herüber und stieß den Trank mit der Fußspitze um. Ich war mir sicher, dass es Absicht gewesen war, doch gegenüber der wirklich wütenden Heilerin log das Kind und beteuerte, es war aus Versehen passiert.Mein Körper wurde durchgeschüttelt, dann sackte mein anderes Ich auf dem Boden in sich zusammen. Besorgt sah Papa nicht gerade aus, als er kontrollierte, ob mein Körper noch lebte. Na danke auch, Papa! Mehr Mitgefühl bitte!
Plötzlich stellte sich derjenige, der sich gerade in meinem Körper befand, wieder aufrecht hin und die Augen in meinem Gesicht - nein, die desjenigen, der sich in meinem Körper befand - wurden glasig. Die Werwölfe, die einen Halbkreis um meinen Körper gebildet hatten, rückten näher und begannen meinem Körper Fragen über Adam zu stellen. Ich verstand sie nicht und was ich antwortete, hörte ich auch nicht. Ich fühlte mich wieder, als würde ich hoch oben in der Luft auf Wolken laufen und durch luftige Höhen fallen.
Dann wachte ich wieder auf. Ich saß auf dem staubigen, plattgetretenen Boden der Lichtung und hustete. Ein spitzer Stein steckte in meiner Hand. Anscheinend war ich wirklich gefallen. Ich schaute auf. Niemand nahm Notiz von mir, die Clanmitglieder und Papa waren verschwunden.

DU LIEST GERADE
Wenn der Mond scheint
Manusia SerigalaEin Werwolf. Ein Vampir. Eine Jagd. Die Jagd. Als Werwölfin Nova bei Vollmond im Wald einem Vampir begegnet, der sie nicht in tausend Stücke zerfetzen will, ist sie zuerst misstrauisch. Doch als er sie vor den anderen aus seiner Gruppe rettet, nimm...