6. Diebe, Ketzer, Mörder

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»Was auch immer für ein Ende mir das Schicksal bestimmt hat, ich werde es ertragen«

- Seneca

Die Wachen des Königs traten beiseite, als Amy und Ich den Rand des kleinen, abgegrenzten Bereichs des Gartens erreicht hatten. Wie es den Anschein hatte, war dieser nur seiner Hoheit und dessen engsten Beratern vorbehalten. Kurz nachdem wir vom Baum erwählt worden waren, hatten uns Boten gebeten, schnellstmöglich hierher zukommen. Als der König uns sah, erhob er sich schwerfällig und ächzend von dem mit rotem Samt bezogenen Kissen seines großen Sessels.

»Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen, kleinen Reich«

Ob er damit diesen Palast oder die ganze Insel meinte, ließen seine Worte offen. Langsam schälte sich sein Gesicht aus den im Wind tanzenden Schatten der aufgestellten Fackeln. Der König war alt. Sehr alt für einen König auf einem Thron, den hunderte Augen Tag ein, Tag aus gierig beäugten. Seine Haare an Kopf und Kinn waren schneeweiß und sein Gesicht von Falten durchzogen. Die Augen waren leicht glasig und ich vermutete dass ihr Licht bereits am erlöschen war. Mit einem traurigen und fast entschuldigenden Lächeln deutete er auf zwei freie Sessel. Als wir stumm Platz nahmen, fiel mein erster Blick auf Seraphine, die mich mit schiefgelegtem Kopf nachdenklich musterte. Ihre langen Ärmel bedeckten die Tätowierungen an ihren Armen und ließen sie menschlicher erscheinen, denn je zuvor. Ihre Schminke - deren Umgang sie wesentlich besser beherrschte als Amy - gab ihr die Erscheinung einer Frau um die fünfundzwanzig, doch ich schätzte, dass die in Wirklichkeit wesentlich jünger war. Ich versuchte mir keine Gefühlsregung anmerken zu lassen und ließ meinen Blick ohne anzuhalten weiterschweifen. Abgesehen von dem Priester in Schwarz saßen noch etwa zwei Dutzend weitere Menschen in den prächtigen Sesseln, die zu einem Kreis aufgestellt waren. Die meisten von ihnen wirkten in ihren protzigen und nach Aufmerksamkeit schreienden, bunten Gewändern eher wie Leute die sich ihren Platz in dieser Runde erkauft, statt verdient hatten. Im Gegensatz zum König selbst, der hochgewachsen und eher mager war, zeugten ihre untersetzten und fetten Körper von dem ausschweifenden Lebensstil, dem sie ohne Zweifel frönten. Unter ihnen entdeckte ich jedoch vier Personen, die so gar nicht in diesen Kreis hineinpassen wollten. Sowohl ihre Masken, als auch die übrige Kleidung war eher schlicht und die Farben schon lange verblichen. Einer von ihnen war ein Mann, der den Zenit seines Lebens noch nicht lange überschritten hatte. Weiße Haut zierte seinen glattrasierten Schädel und unter der schwarzen Maske, die im starken Kontrast zu seinem sehr hellen Teint stand, blitzten intelligente, grüne Augen hervor. Er trug eine abgetragene Kutte, die der des Priesters ähnelte und jetzt, wo mir diese Gemeinsamkeit aufgefallen war, bemerkte ich eine außerdem auch die Sonnenkette. Jedoch war die Seine nicht aus Gold, sondern aus einfachem Metall. Sein Blick war zornig und huschte herausfordernd hin und her, aber er schwieg. Neben ihm hatte sich eine junge Frau niedergelassen, vielleicht fünf oder sechs Sommer älter als ich. Ihre Maske war achtlos auf den Boden geworfen worden und enthüllte ein hübsches Gesicht, dass nur von einer Narbe entstellt wurde, die sich quer von der Stirn über ihr linkes Auge auf die Wange hinunterzog. Zuerst dachte ich, sie würde schluchzen, doch ihre tief in den Höhlen liegenden Augen waren trocken und ihr Mund bewegte sich unablässig. Ich konnte nicht hören, was sie vor sich hin murmelte aber es hatte etwas gespenstisches an sich. Ihr Blick war glasig und ich glaubte nicht, dass sie sonderlich viel von Ihrer Umgebung mitbekam. Meine Augen huschten weiter und ich wurde der beiden Mädchen gewahr, die sich kichernd im Flüsterton unterhielten. Im ersten Moment dachte ich aufgrund ihrer unübersehbaren Ähnlichkeit, sie wären Zwillinge, doch als ich sie genauer betrachtete, erkannte ich einige Unterschiede. Eine der beiden war ein wenig größer und wirkte auch älter, um die fünfzehn, wobei ihre Schwester ungefähr ein Jahr jünger war. Beide hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihren kurzen, blonden Haaren eine Frisur aufzuzwingen oder sie auch nur zu kämmen. Doch diese völlige Nichtbeachtung höfischer Schönheitsideale strahlte einen gewissen Charme aus und in Verbindung mit ihren ebenmäßigen, fast edlen Gesichtszügen waren sie um Längen Schöner als die meisten der herausgeputzten Damen, die ich heute Abend gesehen hatte. Doch plötzlich, als hätten sie gespürt, dass ich sie beobachtete, hielten sie in ihrem Gespräch inne und wandten ihren durchdringenden Blick synchron auf mich. Ich erschauderte unwillkürlich. Im Laufe meines Lebens waren mir schon viele Kuriositäten untergekommen. Und als die Faszinierendste hatte ich bislang den pulsierenden Halo am Rande Amys Iris empfunden. Doch die Augen der Schwestern hatten etwas an sich, von dem ich mir sicher war, dass es nicht von dieser Welt stammte. Sie hatten die schmalen, senkrechten Pupillen einer Raubkatze und ihre Iris strahlte in einem unnatürlichen Lila. Ich war froh, als der König wieder das Wort erhob und er die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen auf sich lenkte. Spürbar erleichtert atmete ich auf.

Paradise Lost - Das verlorene ParadiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt