Man nannte Stefan »den Komischen«, den »Merkwürdigen«, den »Verschrobenen«, den »Verrückten«, und es gab noch andere, weitaus bösartigere Begriffe, mit denen Stefans Klassenkameraden das unangepasste Verhalten des schweigsamen Jungen attestierten. Zwei Wochen nach seinem 8. Geburtstag stand Stefan während der großen Pause auf dem Schulhof, alleine unter einem hohen Kastanienbaum namens Werner, weitab von seinen tobenden Klassenkameraden. Er zählte konzentriert die Dornen einer ihm soeben vom Wernerbaum vor die Füße gefallenen Kastanie. Bei ihrem Aufprall auf den Betonboden des Pausenhofes war die Kastanienschale aufgeplatzt. Stefan betrachtete fasziniert die glänzende braune Frucht im Inneren der dornigen Kapsel.
Er hielt die Kastanie vorsichtig in der Hand und war in das Zählen der Stacheln vertieft, als sein Klassenkamerad Heiner mit der sinnigen Frage: »Was machst du da?« auf ihn zustolperte und sich mit dieser völlig überflüssigen Frage bis auf weiteres für Stefan als Gesprächspartner disqualifizierte. Meine Güte, dachte Stefan. Welch dumme Frage! Aber Heiner ließ nicht locker: »Was machst du denn da?«
Mit einer Frage oder Anmerkung am falschen Ort oder zur falschen Zeit vermochte man in Stefan eine vorübergehende Sprachlosigkeit auszulösen, die seinem freien Willen nicht unterlag und sich auch seiner Steuerungsfähigkeit entzog. Er verstummte einfach. Entsetzen, Entrüstung, Angst und Hilflosigkeit waren einige der Verursacher seiner temporären Verstummung. Aber es gab noch mehr Auslöser, die er aber erst später kennenlernen sollte.
Mit seiner Mutmaßung: »Zählst du die Stacheln der Kastanie?«, stellte Heiner zwar seine Beobachtungsgabe unter Beweis, aber gleichsam auch seine Penetranz, mit der er Stefan zu quälen vermochte. Stefan machte Heiners Erläuterung seiner offensichtlichen Beschäftigung wütend. Er legte keinen Wert darauf, dass sein Handeln kommentiert wurde. Es war seine Kastanie und es waren seine Stacheln. Es waren dreiundzwanzig, wie er unbeirrt schweigend ermittelt hatte.
Und diese Stacheln besaßen für Stefan weitaus mehr Unterhaltungswert als Heiner, der ihn vom Tag der gemeinsamen Einschulung an wie kein zweiter Klassenkamerad zu langweilen vermochte. Aber dennoch hatte Heiner seinen Mitschüler Stefan durch die bis zu diesem Herbsttag überstandenen zwei Schuljahre verfolgt. Beharrlich klebte Heiner an Stefans Fersen, wann immer er sie, die Fersen, beziehungsweise ihn, Stefan, erspähte.
Stefan war zwar stets bestrebt, nach dem Pausenzeichen als Erster aus dem Klassenzimmer zu stürzen, um auf dem Schulhof eine ruhige Ecke für sich in Beschlag nehmen zu können. Aber meistens dauerte es nicht lange, bis er von Heiner entdeckt wurde. Entweder spürte er ihn hinter der Turnhalle auf, wo Stefan während der Pausen zuweilen auf einem großen Basaltstein hockte, nachdenklich seinen Pausenkakao trank und sich aufrichtig an der Nichtanwesenheit seiner Mitschüler erfreute. Oftmals hatte Heiner seinen Klassenkameraden Stefan mit den Worten »Da bist du ja!« enttarnt, wenn dieser sich neutralisierend unter seine Mitschüler zu mischen versucht hatte. Jedes Experiment Stefans, jede Strategie, sich für seinen treuen »Begleiter« Heiner unsichtbar zu machen, scheiterte kläglich.
Einmal hatte er Stefan aus einem Gebüsch gezerrt, in dem dieser gerade seine Blase entleerte. »Was machst du da?« Heiner war in der Tat eine Kapazität, wenn es darum ging, Fragen zu stellen, deren Beantwortung Stefan so unsäglich schwer fiel und ihn zuweilen ins Schwitzen brachte. Oder zum Verstummen.
Stefan wandte Heiner den Rücken zu und schützte seine Baumfrucht vor dessen neugierigen Blicken. Heiner umkreiste Stefan daraufhin in einem bedrohlich engen Radius und stand seinem Mitschüler Sekunden später wie- der gegenüber. »Am Marktplatz liegen noch viel mehr davon«, setzte er Stefan völlig unnötig in Kenntnis. »Redest du nicht mehr mit mir?«
Hätte Stefan mit »Ja« geantwortet, hätte er Heiners Frage zwar korrekt und in dessen Interesse beantwortet, aber er hätte mit ihm geredet. Ein »Nein« hätte eine Unterhaltung mit Heiner zur unerwünschten Folge haben können. Folglich durfte Stefan nicht antworten, um Heiners Monolog nicht in einen Dialog umschlagen zu lassen. Heiner war also selbst schuld, weil er Stefan derart unter Zugzwang setzte.

YOU ARE READING
Der Kastanienkern
Short StoryZwei Jungen lernen sich in der Schule kennen und wissen nicht, wie ähnlich sie sich sind. Als sie es endlich herausfinden, ist es zu spät.