Der Enkel

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Auf dem Dach des Gebäudes stand groß das Wort „Baumarkt".
Wochentags um 15 Uhr war es recht leer auf dem Parkplatz. Um diese Zeit war nicht viel los, deshalb war es auch die perfekte Zeit, um einkaufen zu gehen, wenn man nicht zur arbeitenden Bevölkerung gehörte, fand Anita. Das traf auf sie auf jeden Fall zu, dachte sie vergnügt. Immerhin steuerte sie mit großen Schritten auf ihren achtzigsten Geburstgag zu. Während sie durch die automatischen Schiebetüren des verglasten Vorbaus eintrat und den vertrauten Geruch einsog, machte sie sich noch einmal klar, welches Glück sie doch hatte. Ja, sie vermisste ihren Herbert, mit dem sie früher immer hergekommen war. Aber zu ihrer größten Freude war sie auch heute alles andere als allein. Sanft griff sie die Hand ihres Enkels, der sie heute begleitete.
    „Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir die Energiesparlampen finden", sagte sie an ihn gewandt. Der kleine Junge sah sie mit großen Augen an und zerrte dann sofort an ihrer Hand. Anita lächelte.
    „Nicht so hastig, Mathias!"
Als sie sich umschaute, kam ihr so wenig bekannt vor. Gartenabteilung. Baustoffe. Wo nur waren die Leuchtmittel? Sie hatte sich doch sonst immer so gut hier ausgekannt, war schon sicher tausendmal mit ihrem Herbert hier gewesen. Sie war immer fasziniert gewesen über hunderte Gegenstände, von kleinsten Packungen bis zu großen, sperrigen Metallteilen. Diese ganzen Dinge, die alle einen Sinn erfüllten, über den sie sich noch niemals Gedanken gemacht hatte. Sie fand, man merkte an Orten wie diesem, wie spezialisiert und weit entwickelt das menschliche Schaffen doch mittlerweile schon war. Dann die Freude, die sie daran hatte, die verschiedenen Lampen mit den angebrachten Lichtschaltern aus und einzuschalten, und die Gemütlichkeit beim Schlendern bis in die Gartenabteilung. An all das erinnerte sie sich noch gut.
    „Nicht so schnell, Mathias. Ich weiß noch nicht, wo wir hinmüssen!", sagte Anita, doch der kleine Mathias hatte sich schon losgerissen und war ein Stück vorausgelaufen. Er war so ein süßer Junge. Die schwarzen, lockigen Haare, die karamellfarbene Haut und das Glitzern der Erwartung in seinen Augen.
Das erinnerte sie wieder an ihren Herbert.
Sie konnte seine Stimme fast hören, wie sie an dem teuren Luxusgrill vorbeigegangen waren und er davon geschwärmt hatte, jedes Mal mit einer anderen Geschichte davon, was er zubereiten würde, wie fantastisch das Fleisch werden und wie viel besser und effizienter als ihre alte Maschine das sein würde. Ja, er wäre etwas sperrig am Balkon und sehr teuer, aber man denke doch an all die Vorteile! Sie hatte es ihm immer ausgeredet, und er hatte gelächelt, wissend dass sie recht hatte. Heute wünschte sie sich, sie hätten das Ding damals einfach gekauft. Ihr Herbert, mit seiner Grillmeisterschürze, wie er vor diesem Ding stand voller Stolz, seine tausend Vorzüge anpreisend mit einem Glitzern in den Augen wie ihr Enkel heute. Ach, wie gerne hätte sie das als echte Erinnerung, nicht als bloße Fantasie davon, was hätte sein können.
Während sie ihrem Enkel folgte, beobachtete sie mit flüchtigen Blicken die anderen Menschen im Baumarkt. Da waren junge Ehepaare und die unverbesserlichen Heimwerker in ihren Trägerhosen. Anita hatte zu jedem eine genaue Vorstellung, was er oder sie wahrscheinlich kaufen wollte. Sie war nämlich ausgesprochen stolz auf ihre Menschenkenntnis. Nur warum schauten sie alle so seltsam an, wenn sie nach ihrem Enkel rief? Die jungen Leute von heute kannten keine Höflichkeit mehr. Endlich hatte sie ihn eingeholt.
    „Mathias, du kannst deine alte Oma nicht so scheuchen. Das macht mein Herz nicht mehr mit, weißt du", sagte sie etwas außer Atem. Dann sah sie sich erneut um. Auf den Eisenregalen waren die Produktkategorien ausgeschildert.
Werkzeug
Holzabteilung.
Farbabteilung.
    „Das gibt es doch nicht! Wir werden jemanden um Hilfe bitten müssen", sagte Anita an Mathias gewandt, obwohl sie sich immer noch nicht erklären konnte, warum ihre Orientierung so schlecht war. Mathias zeigte auf einen Mann. Er war groß und tätowiert, mit einer Glatze und größeren Muskeln als Arnold Schwarzenegger. So einer war sicher gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden.
    „Nein, der nicht, Mathias. Vertrau deiner Oma, die ist länger auf der Welt als du. Sieh mal, wir fragen diese beiden Herren dort", erklärte sie geduldig und zeigte auf zwei Männer, die offensichtlich gerade in ein Gespräch vertieft waren. Doch sie waren gut frisiert und gepflegt angezogen, einer trug sogar eine Krawatte. So etwas sah man heutzutage viel zu selten. Sie wollte Mathias an der Hand nehmen, doch der zeigte nur auf die Männer und schüttelte den Kopf.
    „Was hast du denn?", fragte Anita und griff erneut nach seiner Hand. Doch Mathias blieb stur und schüttelte nur weiter heftig den Kopf, während er auf die zwei Herren zeigte.
    „Wenn du schüchtern bist, dann bleibst du eben da. Aber lauf mir nicht davon, hörst du?", sagte sie und trat auf die beiden zu.
    „Bist du blöd, Gerd? Wir kaufen sicher nicht Kabelbinder und Panzerband."
    „Ähm ... aber wir brauchen doch beides", antwortete der Größere von beiden, der offenbar Gerd hieß.
    „Nein, brauchen wir nicht. Jetzt überleg mal, mit welchem wir eventuell beide unsere Probleme lösen könnten. Na, kommst du dahinter?", fragte der Kleinere sichtlich genervt. Offenbar dauerte diese Diskussion schon länger an, als das zugrundeliegende Thema rechtfertigte.
    „Nehmen sie doch Panzerband, das ist vielseitiger", schlug Anita freundlich vor. Der Kleinere drehte sich mit freundlichem Lächeln zu ihr herum.
    „Siehst du, Gerd. Diese nette alte Dame hier hat es sogar schneller verstanden als du. Gestatten, Bernhard mein Name. Wie kann man Ihnen helfen, gute Frau?", fragte er höflich. Anita war von diesem vorbildlichen Benehmen in keiner Weise überrascht.
    „Wie nett, dass sie das fragen, junger Mann. Ich suche nach Energiesparlampen", erklärte sie.
    „Aber gar kein Problem, man hilft doch gerne. Also, meine Gute, sie müssen den ganzen Mittelgang hinunter gehen und dann links abbiegen. Dort finden sie die Leuchtmittelabteilung".
    „Danke ihnen", sagte Anita mit einem Lächeln und machte sich wieder auf den Weg.
    „Einen schönen Tag noch!", rief ihr Bernhard hinterher.
    „Welches von beiden nehmen wir jetzt?", fragte Gerd, in der Linken die Kabelbinder und in der Rechten das Panzerband.
    „Ist das jetzt dein Ernst?", erwiderte Bernhard völlig entnervt.
Anita aber war wieder bei ihrem Enkel, der sie ganz böse anschaute. Er zeigte immer noch mit dem Finger auf die Männer, und in seinen Augen leuchtete Kinderwut.
    „Was hast du denn? So lange hast du doch gar nicht gewartet. Jetzt zieh nicht so ein Gesicht, dann bekommst du später ein Eis", sagte sie, nahm ihn an der Hand und machte sich auf den Weg zur Leuchtmittelabteilung.

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