Sam war ein Flussratte, die vom Meer träumte. Nachts hörte er den Wind in den Pappeln und dachte an Wellen, die irgendwo weit entfernt an ein Ufer schlugen. Tagsüber, wenn er im Garten arbeitete oder den Zaun reparierte summte er Seemannslieder. "Ein paar Nägel täten gut!", sagte der alte Herr Dinkel, als er eines Morgens vorbeikam. "Der Zaun sieht ein bisschen wackelig aus." Sam lächelte. Er nickte und schlug ein oder zwei Nägel ein. Aber es dauerte nicht lange, und er hörte wieder, wie der Fluss seinen Namen flüsterte. "Gib auf den Löwenzahn acht", warnte Frau Gerstenkorn. "Sonst verwildert der Garten!" Sam zupfte ein wenig Unkraut. Dann blickte er wieder gedankenverloren den Fluss hinunter und stellte sich das Meer vor, wo alle Flüsse enden. Bald darauf entdeckte Sam eine Anzeige in der Aktuellen Flussrundschau. Sam gönnte sich nichts mehr, sparte an allen Ecken und Enden und bestellte die Baupläne. Endlich kam ein Paket. Früh am nächsten Morgen war Sam in seinem Garten am Hämmern. Seine Nachbarn liefen herbei, sahen ihm zu und tuschelten. "Ein komischer Schuppen", sagte Herr Dinkel. "Das ist kein Schuppen", nuschelte Sam, denn er hatte kleine Stifte aus Holz im Mund, "das wird ein hochseetüchtiges Segelboot!" "Aber Sam", sagte Frau Gerstenkorn, "das hier ist doch nur ein kleiner Fluss! Zum Rudern und Paddeln." Sam spuckte die Stifte in seine Pfote. "Alle Flüsse fließen zum Meer", sagte er. "Ich brauche den Fluss nur hinunterzusegeln, bis er zu Ende ist. Dann bin ich am Ziel meiner Träume." "Was willst du denn auf dem Meer?", fragte der alte Herr Dinkel. "Es liegt mir im Blut", sagte Sam. "Mein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater ist auf der Santa Maria mitgesegelt." "Ist wohl eher die Frühjahrsgrippe", murmelte Frau Gerstenkorn. "Das legt sich wieder." Die Tage vergingen und Sam baute sein Boot. Er trimmte den Kiel, setzte die Rippen ein, befestigte die Planken und legte das Deck. Eines Nachmittags blieb der alte Herr Dinkel an der Gartenpforte stehen. "Gibt doch wirklich Wichtigeres zu tun!", sagte er zu Sam. "Putz deine Fenster, schneide die Hecke und nagle das Haus zusammen, damit es nicht davonfliegt!" "Ich will hören, wie der Wind in die Segel fährt", antwortete Sam und schlug noch einen Holzstift ein. Frau Gerstenkorn kam auf dem Weg zum Einkaufen vorbei. "Ratten sind nicht dafür geschaffen, zur See zu fahren", sagte sie. "Ratten sollten sollten festen Boden unter den Pfoten haben." "Unter meinen möchte ich lieber die Wellen spüren", sagte Sam, während er die Ritzen zwischen den Planken abdichtete. Als der Herbst kam, nähte er die Segel. Seine Nachbarn begannen sich ernsthaft Sorgen zu machen. "Tu's nicht, Sam", sagte der alte Herr Dinkel. "Du wirst von wilden Algen angegriffen!" "Du wirst von einem Hai verschluckt!", sagte Frau Gerstenkorn. "Das Meer ruft nach mir", erklärte Sam. "Nachts, wenn ich träume, singt es für mich." Der Winter kam. Es schneite und Sam stand draußen und schmirgelte den Mast. Seine Schnurrhaare waren voller Sägemehl und Schneeflocken. Als es Frühling wurde, war das Boot fertig. Sam taufte es Rattenpfote und lud alles ein, was er brauchte. Die Nachbarn kamen, um Lebewohl zu sagen. Frau Gerstenkorn schenkte ihm einen warmen Schal, den sie selbst gestrickt hatte. Der alte Herr Dinkel schenkte ihm ein paar Ersatznägel. "Der Mast sieht ein bisschen wackelig aus", sagte er. Sam bedankte sich bei allen und urmarmte sie zum Abschied. "Den sehen wir nie wieder", sagten sie zueinander. Aber sie hofften, dass es nicht stimmte. Sam segelte den Fluss hinunter, bis zum Meer seiner Träume. Unter ihm sangen die Wellen. Der Sturm zersauste ihn und der Wind zerrte am Boot. Wale spritzten Fontänen, Delfine sprangen durch das Wasser und die Gischt gerbte sein Fell. Nachts knabberte er Käse und Kräcker und betrachtete den Mond, der über dem Segel auf und ab tanzte. Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden Monate, aber Sam kam nicht zurück. Die Fenster seines Hauses waren mit Unkraut überwuchert und der Schornstein stand schief. Die Nachbarn gaben es auf, nach seinem Mast Ausschau zu halten, an dem die leuchtende Flagge wehte. "Armer Sam", sagte der alte Herr Dinkel. "Von wilden Algen gefangen ..." "Armer Sam", sagte Frau Gerstenkorn. "Vom Hai verschluckt ..." Eines Tages flog eine Möwe vorbei und ließ über Sams Haus einen Zettel fallen. "Liebe Freunde!", lasen die Nachbarn. "Macht euch bitte keine Sorgen. Ich bin glücklich. Alles Gute, Sam." Weit entfernt, draußen auf dem Wasser, steuerte Sam die RATTENPFOTE aufs offene Meer hinaus. Er lächelte und segelte weiter und weiter, den wilden grünen Wellen nach ...
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Sam und das Meer
Short StoryLießt nur das Buch...schöne Geschichte von Tom_Sanchez...