Letting go

169 11 2
                                    

Es duftete nach frisch gebackenen Waffeln, nach Zimt und Glühwein, nach brennender Holzkohle. Weihnachtsmärkte rochen doch überall gleich. Trotzdem hatte der Markt in Aachen dieses Jahr eine fast magische Wirkung auf Ju. Vielleicht lag es einfach daran, dass er in den letzten zwei Jahren nicht stattgefunden hatte.
Es war heute nicht mehr so kalt wie in den letzten Tagen. Trotzdem hatte Ju Schal und Kapuze tief ins Gesicht gezogen. So schlenderte der Youtuber unerkannt durch die dichte Menschenmenge, vorbei an Verzweifelten, die noch letzte Geschenke suchten, an Familien mit kleinen Kindern, die nach Süßigkeiten oder Karusselfahrten verlangten. Ganz unbewusst trugen seine Schritte ihn ins Zentrum des Marktes. Zu der imposanten Tanne, die den Mittelpunkt bildete und sich schon von Weitem sichtbar über das Getümmel erhob.
Ein Weihnachtsbaum hatte auch in den letzten zwei Jahren hier gestanden. Eine sichere Konstante in diesen verrückten Zeiten, die Ju dennoch unglaublich viele glückliche Erinnerungen gebracht haben. Denn er hatte sie mit Rezo an seiner Seite verbracht. Seit mehr als zwei Jahren waren sie nun schon zusammen. Irgenwann in den endlos langen Nächten nach den gemeinsamen Streams, als sie einfach nur zusammen gesessen, gelabert, getrunken hatten, war es passiert. Aus dümmlichen zweideutigen Bemerkungen und zaghaften Berührungen, die nur selten wirklich ein Versehen gewesen waren, war mehr geworden. Echte Anziehung, die keiner von beiden mehr hatte ignorieren können.
Bei der Erinnerung an ihren ersten Kuss, sah Ju noch heute Sterne. Er blickte nach oben. Am düsteren wolkenverhangenen Himmel schimmerte heute nicht ein einziger Stern. Im strahlenden Licht des Baumes hätte Ju sie wahrscheinlich eh nicht sehen können. Er blieb davor stehen, sich selbst einredend, dass es nur die grelle Weihnachtsbeleuchtung um ihn herum war, die ihm die Tränen in die Augen trieb.
Gemeinsam hatten sie das Unglaubliche geschafft und ihre Beziehung vor ihren Fans und vor den Medien geheim gehalten. Die wenigen Eingeweihten hatten ebenfalls kein Wort verloren. Sie hatten einen erfolgreichen gemeinsamen Podcast und einen riesigen Spaß dabei, sich irgendwelche Datinggeschichten füreinander auszudenken und auszuschmücken.
Doch hier stand Ju nun vor diesem Baum, betrachtete die Lichter und fragte sich zum tausendsten Mal, warum sie das eigentlich taten. Heute hatten sie sich genau deswegen gestritten.
Eine einzelne Träne schaffte es aus Jus Auge zu entkommen und floss langsam seine Wange herunter. Genervt wischte er sie weg. Warum ging ihm das ausgerechnet heute so nahe? Es war ja nichtmal der erste Streit gewesen.
Rezo scheute keine Mühen um jegliche private Information aus der Öffentlichkeit heraus zu halten. Und Ju verstand ja auch die Gründe dafür. Dennoch war er es eben gewohnt, so viel von sich selbst, von seinem Handeln, seinen Gedanken, ja selbst seiner Familie mit den Fans zu teilen. Er hatte einfach das Gefühl, nur noch eine einzige große Lüge zu leben. Er hasste es.
Er hatte sogar deswegen mit den Streams aufgehört. Er hatte einfach Angst gehabt, ohne vorbereiteten Text, ohne die Möglichkeit zu editieren eben doch mal einen zu verräterischen Blick, ein Wort zuviel zu riskieren. Die Angst davor grenzte schon an körperliche Schmerzen. Um sich davon Abzulenken, hatte Ju sich Hals über Kopf in seine Hauptvideos gestürzt. Und es hatte ja auch gut funktioniert.
Bisher.
Doch nun war das Ende praktisch in Sicht. Die letzten Geschichten würden schon bald erzählt, alle Stränge verbunden und abgeschlossen sein. Und dann?
Die Angst vor der Zukunft gemischt mit der Anspannung wegen der ständigen Heimlichkeit? Es war einfach zuviel. In den letzten Wochen war er bei jeder Kleinigkeit an die Decke gegangen. Seine Mitarbeiter, seine Freunde, seine Famile, alle hatten es alle zu spüren bekommen. Am meisten aber Rezo.
Und Ju spürte, wie diese ständige Anspannung sie auseinander trieb. Es war ihm heute klar geworden. Als er in seiner angestauten Wut eine Tasse gegen die Wand geworfen hatte. Der Schock, die Angst in Rezos Augen in dem Moment als das Geräusch von zerbrechendem Porzellan durch seine Wohnung schallte? Ju konnte es nicht ertragen. Und er wusste nicht einmal, was ihn mehr störte. Die Tatsache, dass er es war, der Rezo so erschreckt hatte, oder dass der sich überhaupt erschreckte. Dass er nicht zu sehen schien, wie fertig Ju war. Dass Rezo nicht verstehen konnte oder wollte, dass Ju all die Lügen nicht mehr ertragen konnte.
Er wollte doch einfach nur aller Welt sagen und zeigen können, wie sehr er Rezo liebte. Doch tief unter diesem Wunsch, versteckt unter Verständnis und Stress und allem was er sich selbst eingestand, war noch etwas anderes. Etwas nagendes, bösartiges, dem er bis heute keinen Namen hatte geben können. Bis zum klirrenden Aufschlag der Tasse.
Es waren Zweifel.
Zweifel an dem Zweck all dieser verhassten Lügen. In Ju war schlagartig eine Angst hochgestiegen, die ihm die Luft abschnürte, ihn zu ersticken drohte. Er hatte sich zurückgezogen, für den letzten Feinschliff am Weihnachtsvideo an seinem PC verkrochen. Rezo war später zu ihm gekommen, hatte sich entschuldigt, um noch etwas Geduld gebeten. Das Übliche. Es war kaum noch zu Ju durchgedrungen. Viel zu automatisch hatte es sich angehört. Und das hatte die Zweifel, die aufsteigenden Ängste nur weiter geschürt.
Ängste, die jetzt da Ju sie erkannte, schon lange in ihm schlummerten. Das alte Lied, nicht gut genug zu sein. War das der wahre Grund für das Versteckspiel? Schämte sich Rezo für ihn?
Angeblich gab es ja in jeder Beziehung einen, der mehr hinein steckte, der mehr liebte. Ju hatte es immer für Blödsinn gehalten. Selbst jetzt schüttelte er den Kopf über seine eigenen dummen Gedanken. Trotzdem ließen sie ihn nicht los. War er nicht immer derjenige, der einknickte? Der alles versuchte um Rezo glücklich zu machen? Der sich ständig nach den Bedürfnissen des anderen richtete?
Steckte Ju zuviel in diese Beziehung, die seinem Partner nicht so wichtig war? In Jus verworrenen, von Trauer, Angst und Wut verzerrten Gedanken formte sich eine Antwort.
Ja.
Ihre Beziehung hatte wohl ein Ablaufdatum und das rückte unaufhaltsam näher.
Doch allein der Gedanke daran, brach Ju das Herz. Er konnte das nicht. Er liebte Rezo, alles an ihm. Seinen Körper, seinen Charakter, jede Stärke und Schwäche. Ju konnte und wollte sich ein Leben ohne den Blauhaarigen nicht vorstellen. Und dennoch. Wenn Ju nicht völlig den Verstand verlieren, nicht endgültig zusammenbrechen wollte, musste es enden.
Doch wie? Er würde es nie übers Herz bringen, das zu tun. Wenn, dann müsste Rezo die Beziehung beenden. Doch wie nur sollte Ju ihn dazu bringen?
Hilflos sah er sich um. Noch immer war er von Menschen umgeben. Sein Schal war ihm längst aus dem Gesicht gerutscht. Ju spürte Blicke auf sich und schaute sich um. Er fand ein Augenpaar, dass ihn beobachtete. Er wusste nicht, ob die junge Frau, der es gehörte, ihn erkannte oder einfach nur beobachtete. So oder so schimmerte Interesse in ihrem Blick. Rezo hatte mal gesagt, dass er kein Problem mit offenen Beziehungen hätte. Aber ein Seitensprung war etwas völlig anderes.
In Jus Kopf formte sich eine wilde Idee. Eine verückte, nahezu selbstzerstörerische Idee. Es war die wohl dümmste Idee seines ganzen Lebens...

__________________________________
Gemeine Stelle um aufzuhören? Ich weiß ^^
Das ist ein kleines Weihnachtsgeschenk, da ich wohl vor Heiligabend das neue Kapi für meine Haupstory nicht fertig bekomme. Ich hoffe es gefällt euch.

Frohe Weihnachten!

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 11, 2023 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Juzo OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt