Eine Weihnachtsgeschichte [Weihnachten]

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„Ein Fuß vor den anderen. Einfach einer vor den anderen. Ganz langsam. Du machst das wunderbar“, redete er behutsam auf sie ein. Sie brachte nicht einmal ein gequältes Lächeln zustande. Schwer stützte sie sich auf seinen rechten Arm, auf seine linke Schulter drückte das Gewicht des Rucksacks, das mit jedem Schritt zuzunehmen schien. Ihr Atem ging keuchend, abgehackt.

Wie lange wanderten sie jetzt schon die verschneite Landstraße entlang? Zwei Stunden? Drei? Und weit uns breit niemand in Sicht, nicht ein einziges Auto. Natürlich, die Straßen waren vom überraschend gefallenen Neuschnee schwer befahrbar, dieser holperige Witz von einer Landstraße wurde ohnehin selten genutzt und dann war auch noch Heiligabend. Dennoch – wie viel Pech war nötig, um ausgerechnet hier zu stranden? Und dann noch keinem Fahrzeug zu begegnen, dessen Fahrer sich erbarmt hätte, eine Hochschwangere und ihren Freund mitzunehmen? Er war nie gut in Stochastik gewesen, doch dass das nahezu ausgeschlossen war, konnte er sich denken.

Und warum ausgerechnet er, ausgerechnet sie? Warum hätte es nicht das Auto eines topfitten Dreißigjährigen sein können, der den unerwarteten Weihnachtspaziergang durch das eisige Winterwunderland sogar genießen konnte? Oder das einer Ü40-Wintersportgruppe, die ohnehin Schneeschuhe im Kofferraum hatte und jetzt eben kurzfristig ihr Programm änderte? Stattdessen hatte es eine Frau getroffen, die jeden Moment ein Kind bekommen konnte. Mitten im Schnee, abseits von jeder Zivilisation.

Es hatte wieder zu schneien begonnen, sachte fielen die Flocken, noch ganz klein. Sie legten sie lautlos zu ihren Schwestern auf die weiße Decke, die Welt verhüllte und den Mantel des Schweigens drüber breitete. Wunderschön – und für sie bald tödlich.

„Pause“, kam es krächzend über ihre Lippen. Am liebsten hätte er protestiert, gedrängt, sie daran erinnert, dass es mit jeder Minute, jeder fallenden Schneeflocke schwieriger wurde, voranzukommen. Aber er schwieg, reichte ihr wortlos die Thermoskanne mit dem letzten Rest eiskaltem Tee. Sie weiter zu zerren brachte auch nichts. Die Schneeflocken hatten wie erwartet an Größe zugenommen, setzten sich federleicht in ihren langen, dunklen Haaren ab, in ihren Wimpern hingen kleine Eiskristalle. Es könnte so romantisch sein.

Die beiden sprachen nicht, als sie sich weiter voranschleppten – Reden kostete Kraft, die sie nicht übrig hatten. Doch als sie um eine Kurve bogen und nicht weit vor ihnen die hell erleuchteten Fenster eines Dorfes strahlende Löcher in die einsetzende Dunkelheit schnitten, entfuhr ihm ein erleichterter Stoßseufzer. „Schau! Da, da finden wir bestimmt vorübergehend Unterschlupf.“

Sie nickte nur stumm, quälte sich jetzt aber mit noch mehr Verbissenheit durch den Schnee. Als sie das Ortsschild erreichten, war es bereits so dunkel und das Schild von so viel Schnee bedeckt, dass der Name des kleinen Dorfes unleserlich war – nur ein „Bethl…“ war erkennbar. Allerdings war der Name der verschlafenen Ortschaft aktuell auch nicht das Wichtigste.

Sie brach gleich vor dem ersten Hauseingang auf den Stufen zusammen. Er klingelte und hörte kurz darauf schlurfende Schritte im Hausflur. Die Tür wurde nur ein Spaltbreit geöffnet, soweit ist die Kette eben zuließ und brachte ein misstrauisch zusammengekniffenes Auge unter einer buschigen Braue zum Vorschein. „Bitte, dürfen wir reinkommen? Meine Frau ist hochschwanger und wir…“ Weiter kam er nicht. „Verzieht euch, elendes Pack!“, knurrte die Gestalt hinter der Tür unfreundlich und knallte selbige wieder zu.

Sie warf ihm einen flehenden Blick zu, verzweifelt beim Gedanken, doch weitergehen zu müssen. Er läutete bei der Wohnung darüber, biss sich auf die Lippe und wartete. Nichts passierte, obwohl hinter sämtlichen Fensterscheiben Licht brannte. Das konnte doch nicht wahr sein!

In diesem Moment ging das Licht über der Tür des Nachbarhauses an und eine ältere Dame trat heraus, um einen Müllbeutel in der entsprechenden Tonne zu entsorgen. Dann fiel ihr Blick auf ihn, während er ihr gerade aufhalf – oder es zumindest versuchte. Die grauhaarige Frau trat näher und fragte entsetzt: „Ja, was machen Sie denn hier?“

Obwohl sie die letzten Stunden fast ausschließlich geschwiegen hatte, sprudelten jetzt die Worte nur so aus ihr heraus: „Meine Eltern haben mich rausgeschmissen, weil ich ein Kind erwarte, obwohl wir noch nicht verheiratet sind, und dann sind wir weggefahren, aber dann hatte der Esel eine Panne und…“
„Der Esel? Eine Panne?“, hakte die Dame verwirrt nach.
„Ihr Auto“, erklärte er. „Wir nennen es nur Esel, weil es beim Starten so merkwürdige Geräusche macht, die an einen Esel erinnern.“
„Und Sie sind dann bis hierhergelaufen? Bei diesem Wetter? Hochschwanger?“ Die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Kommt rein, kommt rein! Ihr müsst euch ausruhen und aufwärmen, dann könnte mir erzählen, was genau passiert ist. Ich bin übrigens Gloria, und ihr?“
„Josef“, stellte er sich vor und amüsierte sich gleichzeitig innerlich über den so selbstverständlichen wie abrupten Wechsel zum Du. „Vielen,  vielen Dank!“
Die alte Dame winkte nur ab und warf einen fragenden Blick in die Richtung seiner Verlobten. Sie lächelte schwach, während sie mit vor Erschöpfung zitternden Beinen hineintrat: „Und ich heiße Maria.“

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 23, 2022 ⏰

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