Nach einer kurzen Schockstarre überwand Michael die letzten Meter zu Gina und ging neben ihr in die Hocke, darauf bedacht, sie nicht zu erschrecken oder zu berühren.
"Hey, Gina.", sprach er sie an und erhoffte sich, dass er zumindest Blickkontakt zu ihr herstellen konnte.
"Gina? Es ist alles gut.", wiederholte er und legte seine Hand kurz auf ihre Schulter. Über die Gründe ihres Zusammenbruchs konnte er noch gar nicht nachdenken, er war selbst total überrascht und überfordert von Gina's Zusammenbruch.
Nur langsam beruhigte sich Gina und das Schluchzen wurde weniger. Michael hatte sich mittlerweile auf den Stuhl neben Gina gesetzt und wartete darauf, dass Gina endlich zu ihm sah oder irgendetwas sagte.
"Paddy...", erklang Gina's erschöpfte Stimme Minuten später und sie drehte ihren Kopf in Michaels Richtung.
"Gina! Es ist alles gut, was kann ich tun, damit es dir besser geht?", antwortete Michael.
"Kannst du...mich einfach nur....", begann Gina, deren Stimme immer wieder abbrach.
"...alleine lassen?", vervollständigte Michael ihren Satz und schaute sie fragend an.
"Nein...mich nur...halten?", sprach Gina weiter.
"Ja, klar! Darf ich dich in den Arm nehmen?", versicherte sich Michael noch einmal. Er erinnerte sich an Gina's heftige Reaktion als er sie das letzte Mal beim Wandern umarmt hatte und ihr 'Ausraster' darauf.
Gina nickte nur und sah Michael mit verweinten Augen an. Auch Michael standen nun die Tränen in den Augen und er stand auf, um Gina zu umarmen und ihr Halt zu geben. Kurz darauf erhob sich auch Gina und klammerte sich regelrecht an Michael.
"Michael...du bist...ein so großartiger Mensch! Danke...", flüsterte Gina. "Ich...ich weiß gar nicht wie ich das zurückgeben kann! Ich...ich bin eine so schlechte Mutter, Elisa...sie..."
Nun verstand auch Michael langsam, was mit Gina los war. Sie hatte vermutlich einiges von dem Gespräch zwischen ihm und Elisa mitbekommen, wenn nicht sogar alles und machte sich nun wahnsinnige Vorwürfe.
Vorsichtig strich Michael ihr über den Rücken. "Gina, du musst dich nicht bedanken. Und mach dir bitte keine Vorwürfe! Du bist die beste Mama, die Elisa wünschen kann! Sie liebt dich über alles."
Vehement schüttelte Gina den Kopf. "Ich bin eine schlechte Mutter! Meine Tochter sagt mir nicht wie es ihr geht und vertraut sich lieber dir an, den sie gerade mal ein paar Mal in ihrem Leben gesehen hat. Elisa kann mir bestimmt nicht vertrauen und kriegt jetzt auch noch alles mit, wie schlecht es mir manchmal geht und...und kann einfach nicht mit mir darüber reden, wie trauig sie ist."
"Gina, stopp!", erhob Michael nun seine Stimme und schob Gina sanft von sich weg, behielt seine Hände aber auf ihren Schultern, um ihr in die Augen schauen zu können.
"Rede dir niemals ein, dass du eine schlechte Mutter bist! Das bist du nicht! Und dass Elisa lieber mit mir darüber geredet hat, wie es ihr geht, zeigt doch noch einmal mehr wie lieb sie hat, Gina. Sie wollte dich nicht aufwecken, weil sie dich ausschlafen lassen wollte. Sie wollte dich nicht darauf ansprechen, dass du Nachts weinst oder dass sie auch um ihren Papa trauert, weil sie weiß, dass es dir nicht gut damit geht und sie dich nicht auch noch damit belasten will, dass sie mehr mitkriegt als dir lieb ist.""Du bist ein Engel, Paddy! Wie du mit Elisa geredet hast... das war...Ich hab fast das ganze Gespräch mitbekommen aber wollte nichts sagen. Und ja, lauschen ist nicht gerade nett, aber...weißt du, Elisa macht sehr viel mit sich selbst aus und redet nicht viel drüber, wie es in ihr aussieht. Und wenn sie sich dir gegenüber schon so öffnet..."
"...dann wolltest du wissen, wie es ihr geht. Mach dir keine Vorwürfe, dass ist doch nicht schlimm. Komm wir setzen uns wieder hin und ich mach uns einen Tee, und du beruhigst dich wieder, bevor Elisa dich so sieht.", schlug Michael vor.
"Schau ich etwa so schlimm aus?", wollte Gina von Michael wissen und brachte sogar ein zaghaftes Grinsen zustande.
"Schlimm nicht aber fertig und verheult trifft es gut.", antwortete ihr Michael und schaltete den Teekocher ein.
"Elisa ist sehr weit für ihr Alter...Man hat fast das Gefühl mit einer Erwachsenen Person zu sprechen, als ich mit ihr geredet habe ist mir das zum ersten Mal so richtig aufgefallen. Wie gut sie schon reflektiert und ihre Gedanken ausdrücken kann, das ist echt beindruckend. Sie ist ein wahnsinnig kluger Kopf, du kannst wirklich stolz auf sie sein. Und auf dich. Wenn du wirklich eine schlechte Mutter wärst, wäre Elisa garantiert nicht so ein aufgeschlossenes, freundliches und intelligentes Kind.Gina war froh, dass Michael dieses schwere Thema von vorhin und ihren Gefühlsausbruch nicht weiter hinterfragte. Sie wusste, dass ihm wahrscheinlich die Fragen auf der Zuge lagen, aber er schien zu merken, dass sie gerade nicht darüber reden wollte. Und dann war da ja auch noch die Sorgen wegen des Geldes für das Grunstück, was ihr schwer im Magen lag und einer Lösung bedarf.
"Ja, das stimmt. Seit sie in der Schule ist, hast sie da nochmal einen riesen Sprung gemacht. Manchmal habe sogar ich das Gefühl ich rede mit einer Erwachsenen im Körper einer Sechsjährigen. Es ist schwierig, ihren Wissensdurst zu stillen, weißt du? Elisa hinterfragt viel und will alles wissen. Wenn sie einmal ein Thema hat, das sie interessiert dann taucht sie da total ein und kann sich stundenlang damit beschäftigen. Aber glücklicherweise gibt es dann trotzdem die Momente, in denen sie einfach nur ein Kind ist und diese Unbeschwertheit und diesen kindlichen Optimismus hat.""Sie ist jetzt in der ersten Klasse oder? Wie geht es ihr in der Schule? Ich meine...dieser Wissensdrang...die arme Lehrerin", lachte Michael und stellte sich Elisa vor, wie sie ihre Lehrerin mit Fragen durchlöcherte.
"Ja, die tut mir auch leid!", lachte Gina nun. "Aber sie ist nicht immer die bravste Schülerin, ist mir zu Ohren gekommen. Sie tut sich sehr leicht, begreift neue Dinge sehr schnell und hat am Anfang des Schuljahres ziemlich oft mit Unverständnis reagiert, wenn sie sich gelangweilt hat, andere aber mit der Aufgabe noch nicht fertig waren. Aber mittlerweile hat sie sich da gut eingegliedert und ist nun wie eine zweite Lehrerin, die die anderen unterstützt, wenn sie nicht mehr weiterkommen.", erzählte Gina.
Michael hörte Gina interessiert zu, was sie über Elisa erzählte. Eine Frage interessierte ihn blendend und war ihm auch während des Gesprächs mit Elisa schon in den Kopf gekommen.
"Ist Elisa dann hochbegabt?""Die Vermutung liegt nahe, aber wir haben noch keinen Test gemacht. Weißt du, ich bin ja selbst Lehrerin und sehe auch die Nachteile, wenn die Kinder selber über ihre Hochbegabung wissen. Viele denken, etwas stimmt nicht mit ihnen oder sie hätten eine Krankheit, die nicht mehr weg geht. Oder es wird erwartet, dass sie Spitzenleistungen erbringen, was ja auch nicht zwingend mit einer Hochbegabung einher geht. Aber die Lehrerin hat da ein Auge drauf und wir sind da im Gespräch. Elisa ist jetzt in einem Entdeckerclub in ihrer Schule, in der eine kleine Gruppe an begabten und interessierten Schülern noch einmal mehr gefördert werden können und wo auf ihre Fragen eigegangen werden kann, die den Rahmen des 'normalen' Lehrplans oder Unterrichts sprengen würden. Ich will ihr nicht das Gefühl geben, dass sie anders ist. Sie ist da zwar die Jüngste aber hat schon ein paar Freunde gefunden, das freut mich."
"Das ist ja super interessant, dass die Grundschule einen solchen Entdeckerclub anbietet. Weil oft gibt es dann eine Hochbegabengruppe oder Hochbegabtenklasse, die dann genau das bewirkt, von dem du warnst. Das sie als anders abgestempelt werden oder als etwas besonderes."
"Ja genau, das finde ich super von der Schule! Es steht gerade auch die Frage im Raum, ob und wenn ja wann Elisa vielleicht eine Klasse überspringen soll...aber da reden wir immer zusammen mit Elisa drüber, also wir entscheiden da nichts über ihren Kopf hinweg. Eigentlich würde ich ihr eine stinknormale Grundschulzeit wünschen, aber ich sehe ja jetzt schon, wie weit sie in Mathe schon rechnen kann. Sie ist jetzt schon 20 Seiten weiter als der Rest der Klasse und bringt sich das größtenteils selbst bei. Das ist ein echtes Dilemma für mich. Ich will ihr gerecht werden und ihr die Förderung geben, die sie verdient und sie sie auch braucht, um ihren Wissensdurst zu stillen. Aber trotzdem ist da die Angst, sie zu überfordern oder mit einem Überspringen aus der Klasse zu reißen."
"Ich war nie in der Schule und hab auch keine Kinder, da kann ich jetzt schlecht sagen 'Das verstehe ich'. Aber es klingt logisch was du sagst... Glaubst du, dass Elisa sich dem bewusst ist, dass sie hochbegabt ist?"
"Naja, ich denke mit dem Begriff Hochbegabung kann sie wenig anfangen. Aber ich glaube, sie merkt schon, dass sie anders als die meisten anderen in ihrem Alter ist. Nicht negativ, sondern für sie größtenteils positiv. Manchmal ist sie genervt, weil die anderen so langsam sind, aber die Lehrerin ist spitze, die hat da ein gutes Gefühl dafür, wie sie Elisa fördern und fordern kann!"
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Have faith in the dark - MPK
FanfictionZeitlicher Beginn: September 2021 Eine Geschichte über Gina und ihre kleine Tochter Elisa, die nach dem Verlust eines geliebten Menschen langsam wieder ins Leben zurückfinden müssen. Michael Patrick Kelly, der seine freie Zeit nach den Arbeiten am...