Kapitel 1

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Schweigend stand ich vor dem Gemälde und starrte es an. Darauf war ein großer Kreis zu sehen. Er war zur Hälfte weiß und zur anderen Schwarz. Und in der Mitte wurde er von einem grauen Strich halbiert. Dieser war an manchen Stellen breiter, an anderen dünner. Mein Kopf schmerzte, während ich verzweifelt versuchte den Sinn und Zweck dieses Gemäldes zu erkennen. Aber ich konnte dieser Form von Kunst einfach nichts abgewinnen.


„Ehm Entschuldigung", erklang da eine tiefe Stimme auf Englisch hinter mir. „Können Sie vielleicht ein kleines Stück beiseite gehen?"

Hitze schoss mir in den Kopf, während ich peinlich berührt Platz machte, sodass der junge Mann das Bild betrachten konnte. Auch er schien etwas darin zu suchen. Einen tieferen Sinn. Allerdings war bei ihm deutlich mehr Interesse für diese Art der Kunst vorhanden, als bei mir. Zumal ich auch nicht ganz freiwillig hier war. Aber die Tatsache, dass nun alle beliebten Praktikumsplätze vergeben waren, war meinem Aufschiebe Talent zu verdanken. Und so war ich nun hier in diesem Kunstmuseum gelandet. Moderne...nicht alte Kunst. Tja...selbst schuld Ellie, selbst schuld. Im nächsten Semester würde mir das nicht mehr passieren. Aus Schaden wurde man bekanntlich klug.

Und nein, nochmals nein. Ein erneutes Praktikum würde ich hier sicher nicht machen. Schließlich war ich schon über eine Woche hier. Ja...die Leute waren furchtbar nett. Aber ich interessierte mich schlichtweg nicht für moderne Kunst. Mein Herz war bei alten Gemälden, Figuren, antiken Gebäuden oder ähnlichem. Stundenlang könnte ich mir Bücher dazu durchlesen oder Dokumentationen ansehen. Als mein Studiengang im vergangenen Jahr eine Reise nach Ägypten unternommen hatte, war ich krank gewesen. Verdammt hatte mich das geärgert. Dabei hätte ich doch gerne einmal selbst die Pyramiden gesehen oder die alten Malereien in ihrem inneren bewundert. Warum passierte das immer mir?

Ich wagte einen Blick neben mich. Der junge Mann stand noch immer da und musterte das Bild. Meinen schiefen Blick schien er gar nicht zu bemerken. Der kannte sich bestimmt viel besser mit dem ganzen Zeugs hier aus. Noch dazu hatte ich Pause. Ihn anzusprechen konnte nichts schaden, oder? Irgendwo hatte ich ihn doch schon einmal gesehen. Aber jeder hatte hier auf dieser Welt einen Doppelgänger. Ich konnte mich bestimmt auch täuschen.

„Sorry...", wandte ich mich zögerlich an ihn. Erst bemerkte er meine Frage gar nicht, aber dann, als sein Blick zu mir wanderte, zuckte er zusammen. Fest verankerten sich seine Augen in meinen. Fast wirkte es, als würde er warten, dass ich ihm eine ganz bestimmte Frage stellte.

„Ich wollte Sie nur fragen, was Sie in dem Bild sehen? Also welche Bedeutung es für Sie hat", rang ich mich zu der Frage durch. Mein Gegenüber hatte bereits den Mund geöffnet, um zu antworten, schloss ihn wieder, um zwischen dem Bild und mir misstrauisch hin und her zu blicken. Dann schien er zu überlegen.

„Also, wenn nicht, ist es auch nicht schlimm", fügte ich noch an. „Ich versuche nur gerade dieser Form von Kunst etwas abzugewinnen."

Irgendwie war es mir gerade ein wenig peinlich das so zuzugeben. Denn schließlich studierte ich Kunstgeschichte im dritten Semester. Kunstgeschichte! Und nicht die Gegenwart. Trotzdem stand ich nun hier. Mir gegenüber dieser Typ, der dem Gespräch lieber aus dem Weg gehen wollte.

„Arbeiten Sie hier?", fragte der mich in diesem Moment. Vollkommen verwirrt starrte ich ihn an. Was hatte das jetzt mit meiner Frage zu tun? Da bemerkte ich, dass sein Blick gar nicht auf meinem Gesicht lag, sondern dem kleinen weißem Schildchen, das an meinem Oberteil haftete.

„Nicht wirklich. Ein Praktikum. Wegen meinem Studium", sagte ich knapp. Er nickte leicht und sah mich dann fragend an. Eigentlich musste ich ihm die Frage nicht beantworten. Aber irgendwie freute es mich, dass er ein wenig aufgetaut war und mich nicht länger misstrauisch beäugte.

„Ich mache gerade meinen Bachelor of Fine Arts im Bereich Bildende Künste", erklärte ich. „Nur leider hat es sich so ergeben, dass ich mir keinen Platz mehr in einem Geschichtsmuseum in der Umgebung sichern konnte. Darum bin ich jetzt hier. Auch wenn ich keinen Plan von moderner Kunst habe...zumindest nicht so viel...", plapperte ich.

Ist das Kunst oder kann das weg?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt