Kapitel 92

228 40 10
                                    


„So, können wir dann endlich los?" Luca stand im Flur und trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf seiner Gehstütze. „Wo wollen wir überhaupt hin?" „Mama is Überassund." Meine Tochter schaute mich so empört an, dass ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. „Und wie kommen wir dann dort hin? Wollt ihr mir auch noch die Augen verbinden?" Luca schüttelte sofort den Kopf. „Nein, davon nehmen wir Abstand, schließlich musst du das Auto fahren. Das wäre dann vielleicht etwas zu viel Action für heute." Grinsend drückte er mir seinen Autoschlüssel in die Hand. „Und wohin soll ich jetzt fahren?", hörte ich mich ein paar Minuten später fragen. Espie saß sicher in ihrem Kindersitz auf der Rückbank  und Luca neben mir auf dem Beifahrersitz. „Das Navi sagt dir den Weg." Ich verzog mein Gesicht, denn so langsam breitete sich Neugier in mir aus. Was hatten die beiden wohl geplant? Obwohl beide? Meine Tochter war mit Sicherheit nur ein Mitläufer und nicht in die Planung involviert. Mein Blick ging zum Spiegel und ich sah, wie sie total interessiert aus dem Seitenfenster schaute. Okay, sie war auf alle Fälle ein begeisterter Verbündeter. Eine knappe Stunde später parkte ich in Düsseldorf ein. „Wir gehen in den Aquazoo?" Das überraschte mich wirklich. Luca nickte. „Ja, Zoo hat in der Familie Goretzka eine große Tradition. Wir gehen immer in den Zoo, wenn es uns schlecht geht und wir getröstet werden müssen oder aber wenn wir etwas zu feiern haben. Und heute haben wir etwas zu feiern." Na ja gut, das konnte man mit zweiundzwanzig noch so sehen. In meinem Alter fiel der Geburtstag dann vielleicht doch eher unter die Kategorie, wenn man getröstet werden musste. „Eigentlich wären wir in Dortmund in den Zoo gegangen, aber blöderweise ist mir ja der Unfall dazwischen gekommen und da ich ja fußlahm bin, dachte ich, wäre der Aquazoo dann doch eher das richtige." Erstaunt hob ich meine Augenbrauen. „Wie lange planst du schon meinen Geburtstag?" Ich hatte nicht einmal vermutet, dass er das Datum überhaupt bewusst kannte. „Seit ungefähr Ostern." Wie bitte? Das waren ja über zwei Monate, schließlich hatten wir heute den 19. Juni.
Vor dem Eingang des Aquazoo blieb ich kurz stehen und betrachtete andächtig die Gebäude.
Manno, wie lange war ich schon nicht mehr hier gewesen? Mindestens vierzehn oder fünfzehn Jahre. Nein genau vierzehn Jahre, denn es war das letzte Mal mit vierundzwanzig, kurz bevor meine Eltern mich hinausgeworfen hatten. Ich musste schlucken......damals war ich mit meinem Vater hier. Ja, wir hatten da eine noch intensivere Tradition als die Familie Goretzka. Mein Papa war von kleinauf mit mir jedes Wochenende hierher gegangen und später dann immerhin noch einmal im Monat. Es mag komisch erscheinen, dass ich mich nie dagegen gewährt hatte. Welche Zwanzigjährige ging mit ihrem Vater schon noch in den Aquazoo, anstatt lieber etwas mit Gleichaltrigen zu unternehmen? Aber ich war damals der Meinung, das eine schloss das andere ja nicht aus. Ich hatte es immer genossen, diese paar Stunden meinen Papa ganz für mich alleine zu haben. Hier im Aquazoo gab es nur uns beide und seine Erklärungen. Ja, er hatte mir immer wieder alles über die ganzen Tiere dort erklärt - auch wenn ich das alles schon auswendig kannte - fand ich es schön, ihm zuzuhören. Hier im Aquazoo gab es keine Erwartungen von dem Drachen, die ich zu erfüllen hatte. Hier konnte ich einfach ich sein. Das kleine - und später - große Mädchen, das seine Zeit mit seinem Vater genoss und sich für die ganzen Lebewesen hier interessierte. Dieser Zoo hatte für mich irgendwie die heile Welt verkörpert. Er war wie ein angenehmer kuscheliger Schutzkokon, der alles von mir fern hielt, jedenfalls für die Zeit, die ich hier verbrachte. Als ich jetzt über die Schwelle trat, kam sofort wieder ein unglaublich angenehmes Gefühl in mir auf. So, als ob man nach einer langen Reise nach Hause kam.
„Mama, sau ein Nemo" Meine Tochter deutete begeistert mit ihrem Finger auf das Aquarium. Ja, den Clownfisch kannte sie aus dem alten Film, den sie immer wieder mit Begeisterung sah. Ich hatte dieses Aquarium mit den bunten kleinen Fischen auch früher immer geliebt......

„Na, wie heißt der Fisch?" Papa schaute mich an, nachdem er auf den kleinen bunten Fisch im Aquarium vor uns gedeutet hatte. „Nemo", grinste ich breit und deutete dann auf einen anderen Fisch. „Und das ist Dorie." Papa fing an zu schmunzeln. „Na ja, ich meinte eigentlich eher die Gattung oder die Art." Ich schaute ihn irritiert an. Was meinte er denn damit? „Schau, der Nemo gehört zu der Familie der Riffbarsche...." Interessiert hörte ich dem Vortrag meines Vaters zu und versuchte jedes einzelne Wort mir zu merken. Ich liebte es einfach, wenn er mir das alles mit seiner ruhigen tiefen Stimme erzählte und es nur uns beide und den Fisch vor uns gab.

Ja, ich hatte damals alles an Informationen wie ein Schwamm aufgesaugt. Klar, hatten sich im Laufe der Jahre die Besuche gewandelt. Irgendwann hatte mein Vater mir keine Vorträge mehr gehalten, sondern wir hatten über den Wandel der Umwelt und die Auswirkungen dadurch auf die kleinen Freunde im Aquarium diskutiert. Er hatte mir dann auch nicht mehr die kleinen Plastikfiguren gekauft, die ich in einer großen durchsichtigen Plastikkiste in meinem Zimmer gesammelt hatte......oder den Plüschnemo, den wir heimlich nach Hause hatten schmuggeln müssen, damit ihn meine Mutter nicht entdeckte. Damals kam ich mir mit meinem Papa wie eine Verschwörerin vor, weil wir unsere kleinen Geheimnisse hatten.
„Mein Schatz, das ist ein echter Clownsfisch. Er gehört zur Familie der Riffbarsche und zur Gattung der Anemonenfische", lenkte ich mich schnell von meinen Erinnerungen ab. „Nur im Film heißt er Nemo. Und der blaue dort ist ein Paletten-Doktorfisch." Meine Tochter nickte und folgte mit ihrem Blick dem Fisch. „Menno, und ich dachte, der heißt Dorie und wäre etwas vergesslich, aber genauso sprachbegabt wie du", flachste Luca herum. „Kannst du eigentlich auch walisch?" Ich schüttelte grinsend den Kopf. „Nee, ich kann nur ein bisschen walisisch." Er beugte sich zu mir und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen, während Espie sich immer noch ihre Nase am Aquarium platt drückte. Ja, das war wirklich eine tolle Idee von Luca gewesen, heute hierher zu gehen. Dieser Tag hatte wirklich das Potential der schönste Geburtstag, den ich je hatte zu werden. Ach Quatsch, was hieß hier zu werden. Er war es bereits. Was konnte noch schöner sein als mit meiner kleinen Tochter und meinem Freund einen so tollen Ausflug zu machen.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt