Der Rehbock

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„Schnall dich an!", schnauzte er.
Ich zuckte innerlich zusammen und ließ dabei beinahe mein Handy fallen.
Er meint es nicht böse
, begann ich mein Mantra. So kommuniziert er. Ich liebe ihn und er liebt mich. Trotz dieses Mantras, das ich wie Perlen auf eine abgenutzte Schnur fädelte, beruhigte sich mein innerer Sturm nicht. Immer, wenn er im Stress oder angespannt war, verdeutlichte sich seine Stimmung im Ton. Und das verkraftete ich nach knapp vier Jahren Ehe nicht. Er nannte mich „sein Sensibelchen"; als wäre es eine Krankheit.
„Ja doch", murmelte ich. Der Motor heulte auf, während ich an meinem Gurt fummelte.
„Warum muss ich dir alles zweimal sagen. Was ist nur los mit dir heute?"
Meine Finger waren klamm vom eisigen Wind an diesem Dezemberabend und ich ballte sie zusammen, pustete warmen Atem in die Handflächen. Eine Antwort auf seine Frage gab ich ihm nicht. Es war eher etwas Rhetorisches. Warum bist du so komisch? Bist du traurig? Was ist los mit dir? Guckst du wieder Löcher in die Luft?
Ich blieb ihm gegenüber fair: Ja, ich war ein Träumer und starrte stundenlang auf einen Punkt, ohne dabei zu blinzeln. Ich besaß die Fähigkeit, mich komplett in meine inneren vier Wände zurückzuziehen und ein Kopfkino jagte das nächste. Ich erklärte mich nie, verabschiedete mich nicht oder hing ein „Bitte nicht stören"-Schild auf. Es passierte von jetzt auf gleich.
Er verstand das nicht. Ein Realist, ein Macher, ein Unternehmer. Ein Denker zwar, aber nicht auf diese Weise. Und Verständnis für solche Träumereien brachte er nicht auf.
Der Kia brauste aus der Einfahrt und wäre fast mit der Nachbarsmauer kollidiert. „So ein Mist. Das war der Wind heute. Alles ist vereist", schimpfte er und knallte den Schaltknauf in den Rückwärtsgang.
„Sollen wir lieber nicht fahren?"
„Jetzt sind wir schon auf dem Weg. Außerdem hast du dich auf das Abendessen gefreut."
Recht hatte er. Sie waren lang nicht mehr zusammen aus gewesen. Das letzte Mal vor einem Jahr, als er die Beförderung bekommen hatte. Und danach weniger Zeit für sie besaß als zuvor.
Ich drückte mich etwas mehr in meinen Sitz, während er das Auto vorsichtig auf die Straße manövrierte. Wir ließen das Dorf hinter uns. Das Fernlicht blitzte auf. Surreal trafen die grellen Scheinwerfer auf die verschneiten Felder und die krummen Bäume am Wegesrand. Weiter hinten erkannte man die flauschigen Silhouetten einer Schafherde. Der Nachbarsbauer hatte sie nicht in den Stall zurückgescheucht. Können Schafe im Dunkeln sehen? Froren die Tiere nicht in dieser Eiseskälte? Wenn man genau hinsah, dann-
„Du hörst mir wieder nicht zu."
Ich blinzelte. „Hm?".
Er seufzte tief, dabei stützte er den Ellbogen auf die Armlehne links von mir auf. Seine Hand ruhte auf dem Schaltknauf. Mir wäre lieber, er hätte beide Hände am Lenkrad, doch ich sagte nichts. „Ich fragte", wiederholte er gedehnt. „Ob du die Dokumente zur Post gebracht hast."
Mein Herz verkrampfte sich. Oh, scheiße.
„Ich dachte, das erledige ich morgen, wenn ich eh in der Stadt bin", antwortete ich ihm so gelassen wie möglich, wusste aber im gleichen Moment, das diese Antwort ihn nicht zufriedenstellen würde.
Er schnalzte mit der Zunge und wischte sich über das Gesicht. Ein Anzeichen dafür, wie genervt er war. „Diese Dokumente sind wichtig, Schatz. Wenn sie nicht rechtzeitig ankommen, haben wir ein Problem!" Seine Finger trommelten auf dem Lenkrad. Das Geräusch zupfte an meinen Nervensträngen.
„Das weiß ich doch. Aber einen Tag mehr oder weniger, darauf kommt es nicht mehr an." Es wird im Streit enden, dachte ich mir. Der Abend war ruiniert.
Der schwarze Kia rutschte elegant um eine scharfe Kurve herum. Ich bemerkte, wie die Hinterräder durchdrehten, die Lichter im Cockpit aufleuchteten und schon war es vorbei. Eins musste man ihm lassen: Autofahren konnte er. Die kleine Rutschpartie hatte nur nicht gänzlich vom momentanen Thema abgelenkt.
„Was machst du den ganzen Tag? Du bist halbtags auf der Arbeit. Und dann? Drehst du Däumchen oder gehst mit diesen Waschweibern Kaffee trinken? Ich racker mich jeden Tag ab, damit du wie ein stilles Mäuschen daheim sitzen kannst und dann kriegst du es nicht auf die Reihe, einen Stapel beschissener Papiere in einen blöden Umschlag zu stopfen und damit auf die verdammte Post zu gehen!"
Er meint es nicht böse, begann mein Mantra erneut, obwohl sich schon die Tränen in die Augenwinkel drückten. So kommuniziert er. Ich liebe ihn und er liebt mich. Meine Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, sodass sich mein System auf den Schmerz und nicht auf das Gesagte konzentrierten. Noch besaß ich die Kontrolle, noch weinte ich nicht, noch konnte ich -
Wie Gewehrschüsse bohrten sich seine Worte in meinen Kopf, doch das war nicht der Grund, warum ich die Augen in Panik aufriss. Mein Mund klappte auf.
Obwohl alles so schnell geschah, hätte ich jedes Detail des Tieres mit Stift und Papier festhalten können. Es war ein Rehbock. Ich erkannte das Tier an seinen Hörnern, welche wie Zahnstocher mitten aus dem schmalen Kopf wuchsen. Sein kastanienbraunes Fell hob sich deutlich vom Schneegestöber ab. Wie eine Skulptur erstarrte er in seiner Bewegung.
Mitten auf der schneebedeckten Fahrbahn.

„Schatz? Bist du okay?"
Ich antwortete nicht, sondern stieg aus dem Auto. Durch die Wucht des Aufpralles hatte sich die Tür der Beifahrerseite geöffnet. Mit einer fahrigen Bewegung wollte ich den Gurt lösen. Irritiert sah ich an mir herunter. Trotz seiner Warnung hatte ich vergessen, mich anzuschnallen. Was bin ich für ein Schwachkopf. Das hätte unschön enden können...
„Schatz?"
Rauch verklärte mir den Blick, nachdem ich das Fahrzeug verlassen hatte. Die Karosserie des Kias hatte sich wie eine Ziehharmonika bis zur Frontscheibe aufgewellt und offenbarte dabei das Innere des Motorraums. Gesplitterte Autoteile hoben sich von der aufgewühlten Schneedecke ab und fügten sich wie Puzzlestücke in das Unfallbild ein. Ein schiefer Apfelbaum hatte die Schlitterpartie abgebremst. Doch eine Frage blieb offen: Wo war der Rehbock?
Ich hörte den Fahrer aus dem Auto meinen Namen rufen, doch ich wollte unbedingt das Tier finden. Möglicherweise lebte er und litt höllische Qualen?
Nur ein Scheinwerfer hatte den Unfall heil überstanden und beleuchtete die Szenerie über das farblose Ödland bis hin zum Seitenstreifen. Das Rot des Blutes brachte mich auf die richtige Fährte. Das Tier war weit nach hinten geschleudert worden. Es lag mit ausgestreckten Gliedern eingebettet in der weichen Schneedecke am Wegesrand; nur der grotesk verrenkte Hals störte das friedliche Bild.
„Er ist tot", rief ich tonlos. Ich riss mich von den glanzlosen Augen des Rehbocks los und drehte mich um. Das Licht blendete mich zunächst, aber ich erkannte seine Silhouette, die um das Auto herum schlitterte. Er hechtete zur Beifahrertür.
„Wir müssen den Jäger anrufen. Und die Polizei." Meine Worte erklangen leise, wie ein Wispern. Etwas stimmte nicht. Die Welt war verrutscht und fühlte sich fremd an.
Eine Bewegung im Augenwinkel machte mich stutzig. Nicht unweit rührte sich ein Schatten – ein weiterer Rehbock. War das sein Bruder?
Bis ins Mark erschütterte mich ein Schrei. Was ist passiert?, wollte ich fragen, als ich aufgescheucht zum Wagen rannte. Bist du verletzt?,
Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Vielleicht war er traurig gewesen oder geknickt von der Arbeit nach Hause gekommen. Aber Tränen? Weitere Fragen blieben mir im Halse stecken. Obwohl ich in meinem ärmellosen Abendkleid in der klirrenden Dezemberkälte stand, erreichte mich das Gefühl des Frostes nicht. Selbst mein Atem hatte aufgehört, sich zu kleinen Wölkchen vor meinen Lippen zu formen. Und würde ich ihn an der Schulter berühren, dann würde auch er nichts empfinden.
Denn er hielt mich in seinen Armen. Er streichelte mir das blutdurchtränkte Haar aus dem Gesicht und wiegte meinen leblosen Körper hin und her. Abermals ein Schrei; diesmal ertrank er in einem Schluchzer. Ich empfand bei diesem Anblick keinen Schmerz.
Ich fühlte nichts mehr.
Wie eine Marionette, geführt von endlosen Fäden, drehte ich mich um und erblickte abermals den Rehbock. Es war das gleiche Tier. Nur nicht in jener Welt. Jetzt war er in dieser Welt. So wie ich. Seine Ohren zuckten nach rechts, nach links. Er schnaubte leise und brachte mir damit den Frieden. Meine Sehnsucht war gestillt worden.
Ich ließ das Wimmern meines Mannes hinter mir, schritt losgelöst von Trauer, Angst und Depression durch den Schnee und folgte dem Rehbock. Hinein in die Stille.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 25, 2023 ⏰

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