52. Was ist los?

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°○ Maria ○°

Als wir am Kindergarten ankamen, hatte es angefangen zu regnen. Wie spitze Nadeln stachen mir die Tropfen ins Gesicht. Und noch dazu war es kalt, so sehr, dass ich mich mal wieder verfluchte, keine Handschuhe zu tragen.
Auch Leon schien zu frieren, hatte sich beide Kapuzen, sowohl die seines Pullovers als auch jene seines Mantels über den Kopf gezogen, bis tief ins Gesicht hinein. Auch er trug keine Handschuhe.
"Kriegst du jetzt Ärger?", wollte ich wissen, als wir durch den Flur in Richtung Gruppenräume liefen.
"Ja, begeistert werden die auf jeden Fall nicht sein", antwortete Leon, zog sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. "Vielleicht sind wir ja auch nicht die letzten."
Er hatte Recht.
Außer Minchen war noch ein weiteres Mädchen im Gruppenraum, welche deutlich jünger als Leons Schwester zu sein schien und deren blasses Gesicht einen harten Kontrast zu ihren hellbraunen langen Haaren darstellte.
Ich hatte sie schon mal gesehen, erinnerte mich aber nicht mehr genau.
"Na, ihr beiden?", begrüßte Leon sie.
Beide Mädchen spielten in der Puppenküche, jedoch nicht miteinander, sondern jedes für sich.
"Spielt ihr schön zusammen?"
"Spiel nicht mit doofe Babykuh!"
"Jasmin!", ertönte direkt die Stimme der älteren Erzieherin vom Betreuertisch, die war gerade dabei in einem Katalog zu blättern.
"Du sollst hier keine bösen Wörter benutzen! Das hab ich dir schon hundertmal gesagt!"
"Hey Judith!"
"Leon, mein Schatz!" Die Erzieherin stand auf, kam auf uns zu und schloss Leon in eine feste Umarmung. "Wie geht es dir?"
"Ganz gut. Und dir?"
"Mir geht's auch gut, danke." Judith lächelte, sah dann zu mir rüber."Und du bist auch mal wieder dabei?"
"Ja... hallo", sagte ich, etwas verlegen. Irgendwie fühlte ich mich hier gerade fehl am Platz.
"Maria und ich wollen gleich noch was für die Schule machen", erzählte Leon.
"Das ist doch super!"
"Pommes essen!", rief Minchen.
"Geht ihr denn in eine Klasse?"
"Ja." Leon verdrehte die Augen. "Ich bin quasi sitzen geblieben, deswegen..."
"Quasi?", hakte die Erzieherin nach. "Der Direktor hat mich zurück in die Neunte gesteckt, nach den Weihnachtsferien. Er meinte, sonst schaff ich den Abschluss nicht."
"Achso!" Die Erzieherin seufzte.
"Pommes essen!", rief Minchen wieder.
"Wir gehen gleich!", flüsterte Leon ihr zu. "Komm, geh dich schon mal umziehen!"
"Mensch, das ist ja was!", fuhr Judith fort. "Aber gut, jetzt seid ihr wenigstens gemeinsam in einer Klasse. Da könnt ihr euch unterstützen."
"Ja, das machen wir auch", meinte Leon und legte einen Arm um mich.
Das brachte Judith wieder zum Lächeln. "Ihr seid auch so ein goldiges Pärchen", stellte sie fest. "Um was geht es denn bei eurer Schulaufgabe?"
Leon zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, irgendwas in Deutsch."
"Wir sollen ein Plakat zu Sturm und Drang machen", ergänzte ich. "Dazu müssen wir noch ein Gedicht raussuchen."
"Da gibt's doch bestimmt viele."
"Ja, aber nur so kitschige", sagte ich.
"Goethe?", fragte Judith.
Ich nickte.
"Fuck you, Goethe!", sagte Leon, da bedachte die Erzieherin ihn gleich mit einem strengen Blick.
"Was denn?" Leon grinste. "So heißt ein-"
"Jetzt Pommes essen!", fiel Minchen ihrem Bruder ins Wort, die kam gerade wieder in den Gruppenraum gerannt, trug mittlerweile ihre Straßenschuhe, dessen Schnürsenkel noch offen waren und ihre Jacke in der Hand.
"Meine Güte! Irgendwann stolperst du noch mal über deine eigenen Füße!" Leon kniete sich hin und band ihr die Schuhe zu. "Entschuldigung übrigens wegen der Verspätung! Ich bin gerade noch aufgehalten worden von nem Kumpel, dem ging's nicht so gut und... ja, da musste ich halt nach gucken."
"Hatte deine Mutter denn keine Zeit zu kommen?", wollte Judith wissen.
"Die hat viel zu tun im Moment", antwortete Leon.
"Was denn so?", fragte die Erzieherin weiter.
"Keine Ahnung." Leon zuckte die Achseln. "So Arbeit halt im Haus. Und Einkaufen."
"Ah ja..."
"Hey Emma! Komm mal her!", rief Leon jetzt dem zweiten, mit Minchen noch einzigem Kind im Gruppenraum zu, die war zwar nicht zu sehen, befand sich aber wohl immer noch irgendwo in der Puppenecke.
"Komm mal her zu mir, Kleine!", wiederholte Leon, da kam das Mädchen aus der kleinen Nische zwischen Kinderküche und Sitzgruppe hervorgekrochen, einen kleinen Teddy im Arm.
"Na, wie geht es dir?" Leon strich dem Mädchen über die Schulter. "Wartest du auf deine Mama?"
"Nicht Mama."
"Dann holt dein Bruder dich heute wieder ab?"
"Ja."
"Und kommt er später?"
Hierauf zuckte das Mädchen nur mit den Schultern, schlang die Arme dann noch fester um den Bauch des Plüschbären.
Leon deutete darauf. "Ist das deiner?"
"Ja."
"Wie heißt er denn?"
"Micky."
"Micky?" Leon grinste. "Das ist ja mal ein cooler Name! Für einen Bären", fügte er dann noch hinzu. "Hast du den zu Weihnachten bekommen?"
"Oma."
"Hat deine Oma dir den geschenkt?"
Emma nickte.
"Das ist ja schön!", meinte Leon, immer noch lächelnd. "Soll ich vielleicht mal auf Micky aufpassen? Dann kannst du dir schon mal Schuhe anziehen."
Das Mädchen überlegte einen Moment, dann gab sie Leon den Teddy und verließ den Gruppenraum.
"Ach Gottchen! Du kannst ja bald meinen Job machen."
"Ja... Nee", entgegnete Leon, wirkte nun mit einem Mal verlegen. "Ich will lieber Krankenpfleger werden."
Judith nickte anerkennend. "Das würde auch gut passen."
Minchen stieß ein lautes Gähnen aus.
"Oh Mann!" Leon lachte. "Das wird wohl doch nichts mehr mit Pommes essen, heute."
"Will Pommes essen!"
"Wie das denn? Du schläfst doch schon fast ein!"
"Nein!", sagte Minchen, verkrampfte dann die Gesichtsmuskeln, konnte das nächste Gähnen dabei jedoch nicht unterdrücken.
Dies brachte Leon abermals zum Lachen. "Komm, jetzt zieh dir mal die Jacke an!"
Im Flur trafen wir wieder auf Emma. Die saß jetzt auf der Bank in der Garderobenecke, die Jacke halb offen tragend, mit ihrem Teddy im Arm.
"Wie weit bist du mit deinen Schuhen?", fragte Leon sie. "Soll ich dir die mal zumachen?" Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, lief Leon zu dem Mädchen, hockte sich vor sie hin und band ihr die Schnürsenkel.
Davon war Minchen wohl alles andere als begeistert: "Leon lass! Nicht Baby helfen!"
"Wieso? Ich kann doch nett zu ihr sein."
"Nein!"
"Und du kannst auch ruhig mal warten."
"Will aber Pommes essen!", sagte Minchen.
"Das können wir doch auch", meinte Leon und wandte sich nun wieder an Emma vor ihm auf der Bank.
"Was ist mit deiner Jacke? Bekommst du die alleine zu?"
"Geht nicht zu."
"Versuch's doch mal!"
"Ist kaputt." Wie als Beleg ihrer Aussage, legte Emma ihre kleinen Finger an den Reißverschluss ihrer Jacke und zog daran. "Geht nicht mehr."
"Ach was, das klemmt bestimmt nur", meinte Leon. "Lass mich mal gucken! Er half ihr mit dem Reißverschluss, zerrte diesen mit einem kräftigen Ruck nach unten und zog ihn dann zu. "Siehst du? Jetzt haben wir's-"
"Emma! Komm her!"
Eine mir leider nur allzu bekannte Stimme aus Richtung der Haustür.
Ich drehte mich um. Begegnete Adrians Blick, der verzog daraufhin gleich das Gesicht. Angewidert, als wäre ihm gerade ein fauliger Geruch in die Nase gestiegen. Schnell wandte ich den Blick wieder ab, sah stattdessen zu Minchen, die jetzt dazu übergegangen war, mit aller Kraft an Leons Arm zu ziehen. Mit dem Ergebnis, dass Leon sie einfach ignorierte, eine Packung Kaugummis aus der Tasche zog und sie Emma hinhielt. "Möchtest du einen?"
Emma nickte.
"Will auch eins haben!", rief Minchen, doch Leon beachtete sie gar nicht, genauso wenig wie Adrian, der rief nun wieder nach seiner Schwester: "Emma!"
"Alles gut! Lass deinen Bruder ruhig mal warten!", meinte Leon und hielt Emma am Arm zurück, als diese sich gerade in Bewegung setzen wollte. "Na los, nimm dir eins!" Leon nickte zu den Kaugummis.
Emma kam seiner Aufforderung nach. Knibbelte das Kaugummi dann aus dem Papier. Steckte sich den Streifen in den Mund.
Und strahlte.
"Emma!", rief Adrian in diesem Moment erneut, nun mit hörbarer Wut in der Stimme. "Sag mal, bist du taub? Jetzt beweg deinen Arsch hierher!"
"Geht's noch ein bisschen unfreundlicher?"
"Halt du dich da raus!"
"Deine Schwester ist hier nicht diejenige, die zu spät kommt", meinte Leon. Er kam mit Emma auf dem Arm auf Adrian zu. "Und außerdem musst du sie noch abmelden, bevor ihr geht."
"Ja, ach nee!"
Leon nickte zum Gruppenraum. "Judith ist da drin."
In diesem Moment hickste Emma.
"Huch!", rief Leon im gespielten Erschrecken und ließ das Mädchen dabei einmal in seinem Arm hochhüpfen. "Was war das denn?"
Emma grinste verlegen.
"Hast du dich verschluckt?"
"Ja."
"Oh Mann!" Leon lachte. "Ist der Kaugummi denn noch da?"
"Hm-Mh."
"Zeig mal!"
Emma öffnete leicht den Mund.
"Was denn?", fragte Leon. "So seh ich doch nichts! Mach mal richtig auf, den Mund!" Er machte es ihr vor, öffnete weit den Mund und gab dabei ein übertrieben langgestrecktes Aahhhh von sich.
Nun lachte auch Emma, aber nur ein bisschen.
"Jetzt du!", sagte Leon.
Er strich dem Mädchen sanft mit dem Daumen übers Kinn. "Komm, trau dich!"
Einen Moment lang zögerte Emma, dann machte auch sie den Mund weit auf und sagte: "Aah!"
"Super!" Leon grinste, während Adrian nur genervt mit den Augen rollte. "Jetzt hab ich den Kaugummi auch gesehen."

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt