400 Jahre später stand König Simon an ebendiesem Fenster. Gekleidet war er in ein rotes, edles Gewand, darunter ein weißes Rüschenhemd. Seine Füße steckten in schwarzen Schnallenschuhen. Er knurrte leicht. Viel lieber hätte er diese Kleidung gegen die bequemere und zweckmäßigere Kampfmontur getauscht, doch anstatt auf dem Schlachtfeld zu stehen, befand er sich hier in seinem Büro.
Simons Blick schweifte nachdenklich über den schroffen Fels, auf dem seine Ahnen diese Burg erbaut hatten, und weiter in die Ferne. Dieser Krieg dauerte nun schon viel zu lange. Er hatte die Jahrhunderte überdauert und keine Seite wusste mehr wirklich, was der eigentliche Auslöser gewesen war.
Dennoch waren weder die Vampire, noch die Werwölfe bereit aufzugeben und die Kämpfe einzustellen. Dafür waren die beiden Völker schon zu lange verfeindet. Immer neue Gründe wurden gefunden, den Krieg fortzusetzen.
Simons Blick wanderte zum Horizont, wo langsam die Sonne aufging.Liam, sein erster Offizier, musste nun bald in die Sicherheit der Burg zurück kehren. Zwar konnte die Sonne ihnen schon lange nichts mehr anhaben, dennoch schwächte sie die Vampire und so bevorzugte Simon die Nacht um seine Krieger gegen die Werwölfe zu führen.
Zumindest für gewöhnlich. Am vergangenen Abend hatte Liam darauf bestanden, die Truppen anzuführen. Da der Kampf nah am Gebiet der Werwölfe stattfinden sollte, hatte er seinen König aufgefordert, in der Sicherheit der Burg zu bleiben. Das Volk der Vampire konnte es sich nicht leisten, den König zu verlieren. Und Leon, des Königs Sohn, war noch zu jung und unerfahren um dessen Nachfolge anzutreten.Innerlich verfluchte er den schwachen Moment, in dem er zugestimmt hatte, in der Burg zu bleiben anstatt seine Krieger zu begleiten und zu unterstützen. Er hasste es, derart untätig und zum Warten verdammt in seiner Burg zu sitzen.
Unruhig wandte Simon sich vom Fenster und begann im Raum auf und ab zu gehen.
In der Mitte des Zimmers stand der schwere Eichentisch, der schon seinem Urgroßvater gehört hatte. Wie durch ein Wunder hatte er das Feuer überstanden. Das Feuer, in dem Julius damals verschwunden war und seitdem nie wieder gesehen worden war.Lediglich ein paar Brandflecken im Holz des Tisches zeugten noch von dem damaligen Brand, den mit Sicherheit die Werwölfe gelegt hatten.
Nach diesem Brand, hatte sein Großvater die schwere Zugbrücke installieren lassen, um seinen Feinden so den Zutritt zur Burg zu erschweren
Während die eine Wand des Raumes, direkt gegenüber des Fensters, von hohen Bücherregalen eingenommen wurde, war hinter dem Schreibtisch das unregelmäßige, blanke Mauerwerk zu sehen, lediglich unterbrochen von dem großen, offenen Kamin. Simon seufzte, wenn er daran dachte, wie viele wertvolle Bücher den Flammen damals zum Opfer gefallen waren.Verärgert schlug der König gegen die blanke Wand. Sofort bildeten sich Risse in der Wand und der Stein, den seine Faust getroffen hatte, zerbröselte.
Liam hätte längst zurück sein müssen. Irgendetwas musste schief gegangen sein. Simon strich sich durch das glatt nach hinten gekämmte, schwarze Haar. Inzwischen leuchteten seine sonst dunkelbraunen Augen rot vor Anspannung.
Erneut trat er an das hohe Fenster und blickte in die Ferne. Erleichtert atmete der König auf, als er endlich in der Ferne eine Bewegung wahrnahm. Einen Moment wartete er noch ab, bis er sich sicher war, dann wandte er sich ab und stand wenige Augenblicke später am Burgtor, um seine Krieger zu empfangen.
Mit wachsendem Entsetzen beobachtete Simon, wie sich seine Vampirkrieger der Burg näherten. Sie alle trugen schlichte Kampfkleidung. Eine dunkle Hose, ein ebensolches Hemd sowie weiche und bequeme Stiefel.Doch kaum einer war ohne Verletzungen zurück gekehrt. Ein jeder von ihnen hatte Schrammen oder Bisse davon getragen. Viele mussten sogar von ihren Kameraden gestützt werden.
Sichtlich angeschlagen führte Liam seine Krieger an. Die langen Haare des Mannes, sonst ordentlich zusammen gebunden, hatten sich im Kampf aus dem Zopf gelöst. Seine dunklen, jetzt rot geränderten Augen, blickten dem König müde und erschöpft entgegen.
Simon runzelte die Stirn. Dann ließ er seinen Blick zählend über die heim kehrenden Vampire gleiten und sein Entsetzen wuchs weiter.
Gut ein Drittel der ausgezogenen Männer war nicht mit zurück gekehrt.Eilig lief der Herrscher seinem ersten Offizier über die herunter gelassene Zugbrücke entgegen.
„Was ist geschehen, Liam?"
Der Offizier sah auf, dann sackte er erschöpft auf die Knie. Es dauerte eine Weile, bis der Vampir die Kraft fand, seinem König zu antworten. „Es war ein Hinterhalt, meine Hoheit. Wir hatten kaum eine Chance."
Simon fluchte. „Diese räudigen Hunde. Das werden sie bereuen."
Vor Wut zitternd ballte er die Hand zur Faust. „Die anderen Krieger?"
Der Blick des Königs war voller Sorge. Fast fürchtete er die Antwort seines Generals, die ihm die Gewissheit geben würde, die er bereits erahnte.Liam schüttelte den Kopf. „Baran ist mit einer Handvoll Krieger zurück geblieben um die Gefallenen zu bergen. Es wurde ein vorübergehender Waffenstillstand vereinbart, damit beide Seiten diese Möglichkeit erhalten. Aber die anderen sind tot. Wenigstens konnten wir den Wölfen ebenfalls empfindliche Verluste beibringen."
Simon knurrte. „Das macht unsere Krieger auch nicht wieder lebendig. Ich wünsche, dass sie mit allen Ehren bestattet werden."
Langsam richtete Liam sich wieder auf und kam schwankend auf die Beine. Dann salutierte er vor seinem Herrscher. „Ich werde alles in die Wege leiten, mein König."
Der Herrscher der Vampire nickte versöhnlich.
„Aber zuvor werdet ihr alle Euch erholen, damit eure Wunden heilen und ihr wieder zu Kräften kommt. Und danach will ich eine Liste mit den Namen der Gefallenen haben."
Erneut salutierte sein erster Offizier, bevor er seinen Kameraden das Zeichen gab, ihm in die Burg zu folgen.Während die Krieger des Königs Befehl nachkamen und ihre Wunden versorgen ließen, kehrte Simon zurück in sein Büro und nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz.
Den Blick auf ein Pergament gerichtet, stützte er seinen Kopf schwer in die Hände.
Vielleicht war es an der Zeit, das Angebot des Alphas der Werwölfe doch anzunehmen.
Mit einem Seufzen nahm der König das Pergament zur Hand und überflog zum vielleicht hundertsten Mal die Zeilen, die der Alpha ihm geschrieben hatte.Mit einem Knurren zerknüllte er den Bogen, drehte sich zu der Wand hinter ihm um und schleuderte ihn mit einem gezielten Wurf in den lodernden Kamin.
Es prasselte und Funken stoben, als das Pergament in Flammen aufging.
Nie würde er dieses Angebot annehmen. Es käme einer Schmach gleich, sich den Wölfen zu unterwerfen. Nie würde er sich diesen wilden Tieren unterstellen und nie würde er das von seinen Untertanen fordern. Erst recht nicht nach dem heutigen Kampf, in dem die Wölfe seinen Kriegern eine Falle gestellt hatten.
Simons Augen blitzten auf als er einen Bogen Pergament aus der Schublade holte und nach seiner Feder griff.Einen Moment verharrte er und ließ die Feder über dem Papier schweben, bevor er begann, mit blutroter Tinte eine Antwort an den Alpha zu schreiben.
„Alpha. Nie wird sich das Volk der Vampire dem Rudel der Wölfe beugen. Gerne bin ich jedoch bereit, im Gegenzug Eure Kapitulation anzunehmen und Euch in einem zugewiesenen Teil des Waldes in Frieden leben zu lassen."
Der Vampir überflog die wenigen Zeilen, nickte zufrieden und setzte seine geschwungene Unterschrift darunter. Zuletzt rollte er das Pergament zusammen und verschloss es mit seinem Siegel.Kurz darauf klopfte es.
„Komm herein, Linus."
Die Tür öffnete sich und ein noch junger Vampir betrat hinkend den Raum. Er war vielleicht dreißig Jahre alt und somit ein gutes Stück älter als sein Sohn. Gekleidet war er in eine dunkelblaue Livree, die einen starken Gegensatz zu seinen ordentlich gelegten blonden Haaren bot. Insgesamt wirkte er eher schlaksig, wenn auch muskulös, doch nach einer Kampfverletzung in einer der vergangenen Schlachten, hatte der Mann eine schwere Verletzung erlitten, die es ihm nicht mehr möglich machte, die Streitkräfte zu unterstützen. Statt dessen war er in des Königs persönlichen Dienst getreten, um seinen Herrscher auf diese Weise zu unterstützen. Linus verneigte sich respektvoll vor Simon.„Ihr habt nach mir gerufen, Hoheit?"
Der König nickte dem jungen Mann zu und reichte ihm die Pergamentrolle.
„Sorge dafür, dass diese Nachricht an den Alpha der Werwölfe zugestellt wird."
Mit einer erneuten Verneigung nahm Linus das Schriftstück entgegen.
„Ich werde sogleich einen Raben schicken, mein König. Habt Ihr sonst noch Anweisungen?"
Simon schüttelte den Kopf. „Nein. Das wäre alles für den Moment."
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Die Julius Chroniken - Teil 1: Die Prophezeiung
VampirAus der alten Prophezeiung: Zwei Wesen so unterschiedlich wie Tag und Nacht Von den Göttern geschaffen und für den Frieden gemacht Nach langer Nacht wird der neue Tag beginnen, doch für eine der Seiten gibt es kein Entrinnen. Die Macht ins unendl...