20.Oktober 2022: Ein graues Wölkchen

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Oje.

Ich vergaß alles, sogar das Blinzeln. Mit großen Augen beobachtete ich, wie er auf mich zukam.

Jetzt war ich die Antilope.

Sein breiter Mund war zu einem Lächeln verzogen, das vor Selbstsicherheit nur so strotzte. Doch das bemerkte ich nur am Rande, denn das Schimmern in seinen Augen zog mich augenblicklich in seinen Bann.

In seinen braunen Augen erkannte ich ein zartes Glimmen. Helle Lichtreflexe tanzten darin und setzten kupferne und bronzene Akzente. In seinem Blick lag eine Tiefe, die mich faszinierte.
Ich hatte das Gefühl, in diesen Augen zu versinken. Ihr flimmern glich den Spiegelungen des Sonnenlichts auf dem Meer und mir war, als wehte eine sanfte, kühle Brise durch meine Augen hindurch direkt in mein Hirn, die sämtliche Gedanken, Fragen und alles, dessen ich mir bisher bewusst war, mit sich forttrug. Sogar die Angst war wie weggeblasen.

Zurück blieb nur der weite, rauschende Ozean, direkt in meinem Kopf. Er rief nach mir. Ich konnte es nicht hören, aber fühlen. Die Wasseroberfläche glitzerte in der Sonne wie ein Meer aus Milliarden Edelsteinen, so unglaublich schön und kostbar. Es rief mich. Ich wollte zum Wasser.

Eine leichte Brise schob mich sanft in Richtung des Meeres. Ich breitete die Arme aus und lief getragen von dem zarten Windhauch durch weichen, warmen Sand auf das Wasser zu. Doch bevor ich es erreicht hatte, erregte ein kleines Detail meine Aufmerksamkeit. Am ansonsten strahlend blauen Himmel hing ein einzelnes, graues Wölkchen. Ich stoppte und senkte die Arme. Die Wellen schwappten sanft an den Strand, erreichten meine Zehen aber nicht. Diese kleine Wolke störte das gesamte glänzende Bild. Sie passte nicht hinein. Sie war falsch, irgendwie unecht. Als ich die Wolke betrachtete, verkrampfte sich mein Magen und mich beschlich das beklemmende Gefühl, dass nicht sie bedrohlich war, sondern vielmehr der Rest der Szenerie und mit einem Schlag erinnerte ich mich an ein einzelnes Wort.

Rechtzeitig

Das Wort erzeugte einen seltsam bekannten Widerhall, der in meinem Kopf dröhnte und ich bemerkte mit Schrecken, dass es das Einzige war, an das ich mich erinnerte.

Der Wind wurde stärker. Ein Sturm heulte und riss an mir. Er drückte mich Richtung Meer. Der Sand war so heiß, dass es unter meinen Fußsohlen brannte, als hätten sich die Sandkörnchen in heiße Glut verwandelt.
Es kostete mich alle Überwindung, dem reißendem Wind nicht nachzugeben und zum Wasser zu rennen, das Abkühlung versprach. Trotz des Schmerzes, vergrub ich meine Zehen tiefer in dem heißen Sand, stemmte mich gegen den peitschenden Wind, der heftig an mir riss. Ich sah auf die Wolke und klammerte mich an dieses eine Wort. Rechtzeitig.

Ich erlitt die Hitze, die meine Füße verbrannte und erduldete das Peitschen des Sturms in meinem Rücken und sein Zerren an meinen Haaren. Ich richtete meinen Blick stur auf die Wolke. Die wurde größer und mit jedem Stück, das sie wuchs erreichten mich Gedanken, Wörter, Bilder und Erinnerungen.

Ich sah einen großen Laderaum, randvoll mit Kisten und Truhen.
Ich sah Noah, wie er von zwei Typen gepackt und davongeschleift wurde. Ich sah Bea, wie sie hilflos in den Armen des Piratenkönigs hing.

Der Piratenkönig.

Ich sah ihn, wie er mit selbstsicherem Grinsen auf mich zukam.

Oh nein! Nicht mit mir! Ich hatte verstanden.

Die Wolke hatte nun die Größe einer stattlichen Gewitterwolke erreicht. Auch wenn es sich anfühlte, als hätte ich bereits Brandblasen an den Füßen, stemmte ich mich noch mehr in den Sand und gegen den heftigen Wind, allem Schmerz und aller Plagen zum Trotz. Ich biss mir vor Anstrengung auf die Lippen, bis ich Blut schmeckte. Ich würde nicht nachgeben.
Als die Wolke das Ausmaß einer riesigen Gewitterzelle hatte, die bereits den halben Horizont verfinsterte, kamen mir weitere Fragen in den Sinn: Um welches Geheimnis ging es hier? Was wollte der Piratenkönig Kim Hongjoong von uns?

Es war wie in einem Traum, wenn man merkt, dass man träumt. Ich merkte, dass die Umgebung, in der ich mich befand, nicht real war. Ich musste zurück in die Wirklichkeit. In einem Alptraum hätte ich jetzt versucht, meine Augen zu öffnen; so konzentrierte ich mich darauf, meine Augenlider zu schließen. Es war schwer. Sie waren wie festgeklebt und fingen an zu tränen. Mit einem schmerzhaftem Ruck gelang es mir. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich ein Nachbild von schimmernden Brauntönen.

Das Meer in meinem Kopf war verschwunden. Ich sank auf die Knie.

Und bevor ich die wichtigste Frage wieder vergessen konnte, ließ ich sie, wie Meerwasser aus mir raussprudeln:

„Was bedeutet rechtzeitig?"

Abgekämpft saß ich vor ihm auf dem Boden. Aber ich fürchtete mich nicht. Ich war ihm entkommen.

Er zog eine Augenbraue nach oben und sah auf mich hinab.

Er hatte mich manipuliert. So ähnlich wie Beatrice kurz zuvor. Aber ich hatte es stoppen können. Ich hatte mich gewehrt und ich hatte gewonnen.

Das Gefühl des Triumphes war unbeschreiblich. Vielleicht hatten wir doch eine Chance. Mein Sieg entfachte eine Zuversicht, die wie eine Kerze in einsamer Nacht leuchtete und mir Hoffnung und Kraft schenkte.

Noch während der Piratenkönig mich mit zusammengekniffenen Augen musterte, sprang ich auf die Füße.

„Du schuldest uns Antworten!", forderte ich.

Er nickte bedächtig. Sein Blick lag noch immer auf mir.

Ein schiefes Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er fuhr mit der Zungenspitze über seine Vorderzähne, bevor er erklärte:

„Wenn ihr bis Sonnenaufgang nicht alle Rätsel gelöst habt, bleibt ihr für immer auf diesem Schiff gefangen."

Seine Stimme war kälter als das Wasser im Laderaum und die Botschaft seiner Worte ließ die eben erst entfachte Hoffnung zu Eis erstarren und in tausend kleine Kristalle zerspringen.

Die Hitze des Kamins erreichte mich nicht mehr, obwohl ich direkt daneben stand.

Auch die anderen standen da wie erstarrt. Lisa griff nach Hannahs Hand und Eric ballte die Fäuste.

Der Piratenkönig sah in unsere Gesichter und die winzigkleinen Fältchen um seine Augen zeigten, wie vergnügt er war.

„Hier habt ihr etwas, das euch an die verstreichende Zeit erinnern wird."

Er schnippte mit zwei Fingern in die Luft und es erklang der Gong einer Uhr, der schwer durch den ganzen Raum hallte. Er war tief und voll, wie von einer prächtigen Standuhr. Ich sah mich um, konnte aber nirgends eine entdecken.

Automatisch zählte ich die Schläge mit. Es waren 8 Schläge, in einem ungewöhnlichem Rhythmus. Die Uhr schlug nicht gleichmäßig, sondern in 4 Doppelschlägen.

Wo gab es denn sowas?

Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Verwirrt sah ich zu meinen Freunden, die aber eben so ratlos dreinguggten wie ich.

Lediglich bei Christian im Kopf schien es angestrengt zu rattern.

„Es ist Mitternacht", erklärte uns der Kapitän und lenkte damit meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.


Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt