21. Oktober 2022: Noch jemand Tee?

175 20 22
                                    

Auch wenn die Uhr nur achtmal schlug, war es Mitternacht.

Hongjoong wartete, bis der durchdringende Nachhall des letzten Schlags verklungen war und eine gespenstische Stille den Raum ergriff, die bis zu unseren Trommelfellen vordrang. Als ich das Stillschweigen kaum mehr ertragen konnte und es in meinem rechten Ohr anfing zu jucken, sprach er schließlich: „Die acht Schläge der Glasenuhr sind das Symbol für den Übergang vom Leben zum Tod. Aber ihr habt Glück. Da der Oktober sich seinem Ende neigt, bleibt euch noch reichlich Zeit -  bis Sonnenaufgang."

Der Spott in seiner Stimme verursachte mir eine Gänsehaut am ganzen Körper. Alarmiert sah ich zu meinen Freunden.

An deren angespannten Körperhaltungen erkannte ich, dass sie dem Piratenkönig genauso wenig über den Weg trauten, wie ich. Ich hatte keine Ahnung, auf was das hier hinauslief, aber eins wusste ich ganz sicher: Wir hatten alles andere als Glück und wir waren dem Tod bereits näher, als uns lieb war. Dazu brauchte es keine Uhr, um das zu erkennen.

Er sah uns der Reihe nach an, bevor er erklärte:

„Morgen früh um acht schlägt die Uhr erneut achtmal. Die Sonne wird um exakt zwei Minuten nach 08:00 Uhr aufgehen und wie die ersten Strahlen der Morgensonne am Horizont erscheinen, wird die Horizon in die Tiefe des Meeres herabsinken. Mit euch allen an Bord. Ein Übergang vom Leben zum Tod begleitet von den letzten Schlägen der Glasenuhr."

Was hätte klingen können wie der Bühnentext eines Schauspielers, trug er mit soviel Überzeugung vor, dass keiner von uns an seinen Worten zweifelte. Um Zwei nach Acht würden wir sterben.  Ich hörte es, glaubte es und begriff es doch nicht. Doch er fuhr bereits fort:

„Aber keine Sorge, auf dem Meeresgrund gibt es einiges zu entdecken. Vielleicht findet ihr sogar Davy Jones Kiste."* Die Lachfältchen an seinen mandelförmigen Augen und an seinem breiten Mund waren nicht zu übersehen. Eric machte bei den Worten des Kapitäns große Augen. Dass er an eine prall gefüllte Schatzkiste dachte war offensichtlich. Ich ballte die Fäuste. Es ekelte mich an, wie der Kapitän uns damit aufzog, dass wir bald unser nasses Grab finden würden.

Er amüsierte sich prächtig. Er konnte ja auch lachen.

In seinem eisblauen Brokatmantel stand er da wie ein Prinz des Mondes und des Meeres. Die silbernen Haare, die kaum vom Mondlicht zu unterscheiden waren, die dunkle Kälte in seinem Blick und seine ozeangleiche Stimme, in der der düstere Unterton der Gefahr wie eine brandende Woge mitschwang, zeichneten dieses Bild klar und deutlich. Er war der Prinz des nachtschwarzen Ozeans.

Und er genoss es. Er genoss diese Rolle und er ergötze sich an unseren entsetzen Mienen.
Wie ich ihn so betrachtete, erinnerte ich mich an meinen ersten Eindruck von ihm im Spätshop. Er war ein Schauspieler. Ein Meister des Schauspiels und der Inszenierung.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, bis es weh tat. Der Gedanke, nur Teil des Spiels eines egozentrischen Piratenkapitäns zu sein, gefiel mir ganz und gar nicht. Er machte mich krank.

„Mir wird schlecht." Die Worte kamen schwach gehaucht von meiner Linken, hätten aber genauso gut aus meinem eigenen Mund kommen können. Lisa war grün und schien kaum mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Sie griff haltsuchend nach Eric. Erst dachte ich, dass es die Worte des Kapitäns waren, die sie aufgewühlt hatten, aber ihr schien wirklich kotzübel zu sein.

Stimmt, ihr wird ja auch beim Busfahren schlecht. Ich hatte mich an das stetige Schwanken schon gewöhnt, aber Lisa sah aus, als würde sie gleich die Fischstäbchen und den Tütenkartoffelbrei aus der Jugendherberge wieder hochbringen.

Auch wenn mir Lisa leidtat, so sah ich doch mit einer gewissen Genugtuung, wie alarmiert der Piratenkönig plötzlich aussah und wie er angewidert den Mund verzog. Wenigstens hatte Lisa dafür gesorgt, dass sein Grinsen aus seinem Gesicht verschwunden ist. Punkt für Lisa.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt