Chapter 6 / Jasper

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„Mom? Mom? Kannst du mich hören?" Fragte ich und vermutete, dass sie die Lautstärke ihres Laptops wieder auf Null gestellt hatte.

Ich signalisierte mit meinem Zeigefinger zu meinem Ohr und dann nach oben zur Decke. Sie verstand sofort und tippte hektisch auf den Button, um die Lautstärke zu erhöhen.

„Sorry Schatz. Ich weiß nicht wieso mir das immer wieder passiert." Sagte sie entschuldigend. „Jassie, ich freu mich so dich zu sehen." Lächelte sie in die Kamera.

„Ich freu mich auch Mom." Antwortete ich. Sie sah wirklich gut aus. Ihr braunes Haar lag glänzend über ihren Schultern und ihre Augen funkelten als sie mir von ihrem Tag erzählte. Schon lange hatte ich sie nicht mehr so glücklich erlebt.

„Das ist toll. Du kannst dir garnicht vorstellen wie sehr ich mich für dich freue." Seit einigen Wochen hatte sie einen neuen Job in einer kleinen Bäckerei in meiner alten Heimatstadt. Ich hatte endlich das Gefühl, dass sie wieder Freude an ihrem Alltag gefunden hatte und sich wirklich Mühe gab.

„Hey, dein Praktikum startet doch bald. Erzähl mir davon Spatz. Bist du aufgeregt?" Ihre sanfte Stimme grub sich sofort in mein Herz.

„Nächste Woche geht es los. Sachen sind schon alle gepackt. Ein WG-Zimmer hab ich auch schon. Ich kann's kaum erwarten." Antwortete ich. Ab kommender Woche würde ich als Praktikant in einer juristischen Klinik arbeiten. Dort hatte ich die Chance an echten Fällen zu arbeiten, realen Menschen zu helfen. Wahrscheinlich würde ich zunächst die ganzen dummen Aufgaben eines Praktikanten machen müssen, aber es war ein Anfang. Der richtige Anfang. Unter anderem hatte ich mich auch bei der einen oder anderen größeren Kanzelei beworben und auch Angebote bekommen, aber ich wusste was ich wollte. Und was ich wollte, schon immer, war den kleinen Leuten zu helfen. Leuten, welche sich keine namenhaften Anwälte leisten konnten und die gegen die großen Haie nur verlieren konnten.

„Das klingt aber nicht ganz überzeugend." Hakte sie nach. 

„Doch, doch ich bin wirklich aufgeregt, aber... aber es tut mir leid, dass ich dich nicht besuchen kommen kann." Gab ich zu.

„Spatz." Begann sie aufmunternd. „Du träumst davon schon so lange und nun bekommst du endlich die Chance. Genieß es und denk nicht an deine alte Mutter. Du hast dich die letzten Jahre so gut um mich gekümmert, jetzt ist es Zeit an dich zu denken."

„Danke Mom." Mehr bekam ich nicht heraus, ohne das mir die Stimme brechen würde.

„Ich bin so stolz auf dich. Vergiss das nicht."

Zwei Wochen später hatte ich meinen Schreibtisch oder eher den Platz an dem ich die nächsten 8 Wochen leben würde komplett eingerichtet. Neben den drei Tassen mit kaltem Kaffee stapelten sich die Akten in die Höhe. Mein Boss Harvey hatte mir bereits am ersten Tag 10 Fälle zugeteilt. Recherche und Strategieplanung stand auf der Tagesordnung. Ich verstand sofort, dass er mich testen und sehen wollte, ob ich auch die Wahrheit gesagt hatte, als ich sagte ich könne unter Druck arbeiten. Und genau das tat ich. Ich wälzte die Gesetzestexte bis mir die Finger bluteten und nahm ein Telefonat nach dem anderen an bis mir die Ohren piepten. Ich las Urteile und vergleichbare Fälle, um auch die kleinsten Schlupflöcher bei unseren Mandanten auszunutzen. Pausen waren total überbewertet oder? Ich kam im Dunkeln. Ich ging im Dunkeln. Und ich liebte jede einzelne Sekunde. Nach Feierabend freute ich mich schon auf den nächsten Tag.

Harvey hatte vor ein paar Tagen erkannt, dass ich nicht nur ein hübsches Gesicht hatte, sondern auch etwas im Kopf. So durfte ich seit gestern an Mandantengesprächen teilnehmen und nächste Woche dürfte ich mit ins Gericht.
Bereits jetzt war Harvey wie ein Mentor für mich. Ich bewunderte ihn zutiefst. Hatte er jahrelang für die beste Kanzelei der Stadt die größten Deals abgewickelt, war er vor zwei Jahren hierher gekommen. Ein Autounfall hatte ihn zum Umdenken bewegt, sodass er nun für die andere Seite kämpfte. Der Mann war eine Legende und ich durfte von ihm lernen.

Neben mir arbeiteten noch zwei weitere Praktikanten in der Klinik. Ich hatte sie in meinen Kopf liebevoll „Dümmer" und „Noch Dümmer" getauft. „Dümmer" war eine junge Studentin, die nicht einmal den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum verstand. Das war wohl auch der Grund weshalb ihr Tag sich nur an zwei Orten abspielte, der Kaffeemaschine und dem Kopierer. „Noch Dümmer" war bereits gut in seinen Dreißigern und hatte nur noch einen Versuch, um als Anwalt zugelassen zu werden. Neulich hatte ich ihn gebeten eine Vollmacht für einen Mandanten einzuholen. Anstelle das Dokument per Email raus zu schicken, hatte er es per Post versenden wollen. Aber das schlimme daran war, dass er den Brief mit unserer Adresse adressiert hatte. Die meiste Zeit verbrachte er deshalb an seinem Smartphone mit CandyCrush.

Schnell begriff ich, dass die meisten Studenten das fancy Leben in einer Großkanzlei mit Millionenschweren Mandanten bevorzugten. Sie schmückten sich regelrecht damit wessen Arbeitgeber größer war. Im Gegenteil dazu wurden Kliniken gemieden wie die Pest. Es gab so gut wie kein Geld, kaum Aufstiegsmöglichkeiten, keine glamourösen Büros oder namenhafte Mandanten. Doch dafür war ich auch nicht hier. Ich wollte denen helfen, die sich nicht selbst helfen konnten. Den Menschen, die jeden Penny dreimal umdrehen mussten und am Ende des Monats vor der Wahl zwischen Essen oder Miete zahlen standen. Menschen, die wie wir früher von Woche zu Woche lebten und nie wussten wie es weitergehen würde. Das war meine Motivation, mein Weg.

Hopeless Hearts (menxmen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt