55. Ich hasse jeden Tag!

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°○ Maria ○°

Er führte mich die Treppe hinunter.
Ich weinte nur, konnte damit nicht aufhören. Und wusste selber nicht warum. Ich wusste nur, dass ich weg wollte, ganz weit weg von hier und alleine irgendwo in der Ecke sitzen, im tiefster Dunkelheit, wo noch nicht mal ich mich sehen konnte.
Ich hasste das alles hier!
Die Klassenräume mit den hässlichen Möbeln darin. Die Korridore, dessen Boden immer nur schmutzig aussah, wie drauf gekotzt.
Die ganze Stunde über hatte ich da vorne sitzen müssen, in diesem goldenen Käfig. Jeder hatte mich dort sehen können, jede Regung in meinem Gesicht deuten, jedes noch so leise Räuspern von mir verspotten können. Wie oft hatte ich die Sekunden gezählt? Wann hatte ich sie nicht gezählt? Die Zeit war geschlichen, fast schon rückwärts gelaufen.
Und Kunze hatte es sogar noch schlimmer gemacht! Er hatte mich dran genommen, an die Tafel geholt und vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht! Noch mehr, als es überhaupt schon- Ich geriet ins Stolpern!
"Pass doch auf!" Leon hielt mich fest, andernfalls wäre ich jetzt wohl kopfüber die Treppe hinunter gestürzt. Immerhin, dann hätte ich diesen ganzen Scheiß jetzt wenigstens hinter mir. Das wäre doch was, endlich-
"Meine Fresse, dich kann man auch echt nicht alleine lassen!", schimpfte Leon, da hatten wir eben den Fuß der Treppe erreicht. "Komm!"
Er zog mich weiter zu den Mädchentoiletten. "Jetzt geh erst mal aufs Klo!"
Ich öffnete die Tür, sah da direkt eine ganze Schlange an Mädchen vor den Kabinen warten und noch mehr, die vor den Waschbecken standen. Eine von ihnen, eine ältere Brünette fing meinen Blick im Spiegel auf, da ließ ich die Tür schnell wieder zufallen, drehte mich um und-
"Stopp! Stopp! Stopp!" Leon hielt mich zurück. "Was wird das jetzt?"
"Ich kann da nicht rein!"
"Warum nicht?"
"Da sind zu viele Leute!", schluchzte ich. "Das schaff ich so nicht!"
"Du musst doch einfach nur aufs Klo gehen, Süße!", meinte Leon. "Das ist doch kein Problem!"
Er streichelte mir über die Arme. "Soll ich mal fragen, ob du vorkannst?"
"Nein!" Ich schniefte. "Ich kann das nicht, wenn da so viele sind!"
"Gut, dann..." Leon seufzte. "Regeln wir das anders. Komm!", sagte er, zog mich wieder mit sich, diesmal in Richtung der Jungstoiletten.
"Hier ist auf jeden Fall weniger los." Er öffnete die Tür. "Siehst du? Jetzt komm mal rein!" Er schob mich in den Raum. Ich sträubte mich dagegen. "Ich kann doch hier nicht rein! Das ist für Jungs!"
"Ja und? Ist doch egal!"
"Nein!", protestierte ich und versuchte dabei weiter von Leon weg und aus der Tür zu kommen.
"Leon! Bitte, lass-"
"Du gehst jetzt hier aufs Klo!"
Er drängte mich weiter nach hinten, in eine der Kabinen. "Hier ist sowieso gerade keiner außer uns. Da fällt das gar nicht auf. So, komm! Hose runter und hinsetzen!"
"Nein!", heulte ich. Und hustete dann.
"Soll ich dir dabei helfen?", fragte Leon. "Ist doch gar kein Problem!"
Noch schneller, als ich etwas dagegen tun konnte, zerrte er an meinem Gürtel und zog mir dann die Hose samt Slip hinunter.
"Lass mich! Leon!"
Ich wehrte mich. "Spinnst du?"
Statt mir zu antworten drückte Leon mich nur mit dem Hintern auf die Schüssel. Verließ dann die Kabine und schloss die Tür hinter sich.
Ich weinte, eine gefühlte Ewigkeit lang. Wie konnte das nun wieder passieren? Und warum immer mir? Verdammte Scheiße!
"Bist du fertig?", fragte Leon von draußen.
"Nein!"
Womit sollte ich denn bitte fertig sein? Ich konnte das hier nicht! Nicht mit Leon vor der Tür!
"Kannst du nicht-"
Rausgehen, wollte ich fragen, da ging die Tür auf und jemand kam herein.
"Alter! Was machst du hier?" Alis Stimme.
"Wonach sieht es denn aus?", fragte Leon zurück. "Ich warte hier."
"Worauf? Ist doch alles frei!"
"Ach nee! Ist mir gar nicht aufgefallen!"
"Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst!"
Ein Druckgefühl in meinem Bauch. Es breitete sich aus. Oh nein, bitte nicht, dachte ich und spannte mich an.
"Wir mussten noch mit Günther sprechen, nach dem Unterricht."
"Wer ist wir?"
"Maria und ich?"
"Worum ging's denn?"
"Ach, nichts eigentlich", antwortete Leon. "Der wollte uns nur einen Anschiss geben, weil wir zu spät waren."
"Und worauf wartest du jetzt hier?"
"Nur auf Maria."
"Ist sie da drin?"
"Bei den Mädchen war zu viel los", erklärte Leon.
"Schon klar!" Ali gluckste. "Und hier seid ihr dann ungestört", meinte er, in dem Moment entfuhr mir ein Schluchzer.
"Heult sie?", fragte Ali. Und stieß kurz darauf einen mitleidigen Seufzer aus, der wiederum zur Hälfte ein Lachen war. "Du bist auch echt nicht zu beneiden, Bro!"
"Musst du jetzt nicht pissen, oder willst du mich hier volllabern?"
"Vielleicht will ich ja auch kacken gehen."
"Dann geh kacken!"
"Was ist denn schon wieder schief bei ihr?"
"Weiß ich nicht genau", meinte Leon. "Wahrscheinlich wegen dem Gespräch gerade."
"Was war denn da?"
"Nichts!"
"Aber-"
"Eigentlich ging es hauptsächlich um Eddie", erzählte Leon. "Da wollte Günther wissen, wie es mir damit geht und so... und dann fing Maria mit dem Thema Spitznamen an, dass sie die nicht bekommen will."
"Was für Spitznamen?"
"Ja, zum Beispiel Vogel-"
"Das hab ich überhaupt nicht gesagt!", schrie ich durch die Tür. "Damit bist du schon wieder angefangen!"
"Vielleicht hat sie ja ihre Tage", überlegte Ali.
"Ja, vielleicht", stimmte Leon ihm zu. "Brauchst du da was für, Süße?"
"Nein!"
"Ist ja gut!"
Ali kicherte.
"Tschuldigung, dass ich gefragt habe!"
"Ihr seid so verdammt gemein!", heulte ich.
"Verdammt gemein!", spottete Ali. "Alter Vetter! Das hat jetzt aber gesessen!"
"Fick dich doch!", fuhr ich ihn an. Und schluchzte daraufhin wieder.
"Oh Mann! Ich glaub, ich geh mal besser woanders einen abseilen."
"Gute Idee!", meinte Leon.
"Viel Spaß euch noch!"
Schritte auf dem Fliesenboden. Kurz darauf wieder die Tür. Dann Stille.
"Bist du jetzt fertig?" Leon klopfte an die Tür.
"Kannst du nicht rausgehen?"
"Ich bin doch draußen."
"Ich meine ganz raus", sagte ich und schniefte. "Auf den Flur."
"Vielleicht muss ich ja auch noch pinkeln."
"Ja, ganz toll!"
"Was denn?" Leon lachte. "Ich hab halt ne Mäuseblase! Da kann ich nichts dran machen!"
"Ist ja schön für dich!"
"Naseputzen muss ich auch schon wieder", sagte Leon und ließ wie zum Beweis ein lautes Schniefen hören. "Echt nervig, immer dieses Rumgerotze!"
"Haha!"
"Was meinst du mit haha?"
"Kannst du jetzt mal pinkeln gehen?"
"Und danach soll ich verschwinden, meinst du."
"Nur vor die Tür. Das wäre-"
Die Tür ging wieder auf.
"Alter Schwede! Das ist auch ein Betrieb hier, heute!"
"Hi Leon!", ertönte eine mir fremde deutlich tiefe Stimme.
"Ramon!" Leon klang ehrlich erfreut. "Na, was geht?"
"Nicht viel." Ramon gähnte. "Wir haben gerade Mathe."
"Oh Mann! Da würde ich auch lieber aufs Klo gehen!"
"Ja... vor allem bei der Stimmung gerade in der Klasse."
"Du meinst, wegen der Sache mit Eddie?"
"Ist schon krass, dass er sowas gebracht hat", fand Ramon. "Ich meine... irgendwo hatte er ja schon immer so einen komischen Eindruck gemacht, von wegen 'Morgen häng ich mich auf', aber trotzdem-"
"Ich dachte, er hat Tabletten genommen", unterbrach Leon ihn.
"Was weiß ich! So ne krasse Scheiße, echt!"
"Das kannst du wohl sagen!"
Eine längere Zeit des Schweigens. Dann das Geräusch von rauschendem Wasser. Jemand putzte sich die Nase, wahrscheinlich Leon. Das hatte er ja eben noch groß und breit angekündigt. Nur um mich zu ärgern!
"Was hast du jetzt?"
"Nochmal Religion."
"Bei Günther?"
"Jepp!"
"Der macht das doch eigentlich ganz gut, oder nicht?", fragte Ramon und in diesem Moment passierte alles ganz schnell. Die nächste Druckwelle in meinem Bauch, sie schwoll an, weiter und weiter, dann entlud sie sich in einem langgezogenen Pups, gefolgt von allem, was dann noch so kam. Hitze stieg in mein Gesicht, so viel davon, dass es mir in den Ohren rauschte.
War das nun der richtige Moment, um tot umzufallen?

°○ Leon ○°

"Maria? Bist du jetzt soweit?"
Warum kam sie denn nicht raus, überlegte ich. Sie hatte doch schon längst gespült!
"Du, ich will dir ja keinen Stress machen, aber..." Ich seufzte. "Wir sollten so langsam echt mal zurück zur Klasse. Wäre doch blöd, wenn wir noch mal Ärger bekommen."
Maria antwortete nicht.
"Süße? Jetzt sag mal was!"
Wieder kein Wort, dafür nun ein verhaltenes Schniefen.
"Weinst du schon wieder?" Oder immer noch, dachte ich, lief zurück zur Kabine und klopfte an die Tür. "Komm, mach mir mal auf!"
"Lass mich in Ruhe!"
"Sonst komm ich auch so rein", meinte ich. "Das weißt du."
"Warum gehst du nicht einfach?"
"Warum kommst du nicht raus?"
"Du bist gemein!"
"Stimmt", sagte ich daraufhin nur, steckte eine Münze in den Schlitz unterhalb des Knaufs und öffnete die Tür. Maria saß auf der Schüssel, inzwischen wieder angezogen, hielt das Gesicht in den Händen versteckt und weinte.
"Was ist jetzt dein Problem?"
Maria schniefte. "Du bist mein Problem!"
"Ich schon wieder, ja?"
"Lass mich einfach!"
"Was hab ich denn getan?"
"Du nervst mich!"
"Ich nerve dich?"
"Ja!" Maria hustete.
"Und darum willst du jetzt für immer da sitzen bleiben?"
Maria antwortete nicht.
"Warum gehst du nicht einfach nach Hause?"
"Ich habe kein Zuhause!", heulte Maria. "Du hast mir das weggenommen!"
"Ja, ich bin ja auch so böse!"
"Du hättest dich da raushalten sollen! Dann wäre jetzt auch alles besser!"
Alles klar, dachte ich, holte erst mal tief Luft und stieß sie dann in einem schweren Seufzer wieder aus, bevor ich weitersprach. "Das glaubst du wirklich, oder?"
Auf diese Frage erhielt ich wieder keine Antwort.
"Nun komm erst mal daraus!" Ich zog Maria von der Schüssel hoch und dann aus der Kabine. Sie wehrte sich nicht mehr dagegen.
"Los, Händewaschen!"
Maria tat es.
"Und jetzt das Gesicht!"
Auch dieser Aufforderung kam sie nach, ließ sich anschließend von mir abtrocknen und schnaubte dann noch mehrmals kräftig aus, als ich ihr einen frischen Satz Tücher vor die Nase hielt.
"Gut so!", lobte ich sie. "Geht's jetzt wieder einigermaßen?"
Maria nickte, auch wenn sie dabei immer noch weinte.
Ich nahm sie in den Arm, begann sie sanft hin- und herzuwiegen. Und verteilte vereinzelte Küsse auf ihr Haar. "Ist nicht wirklich dein Tag heute, kann das sein?"
"Ich hasse jeden Tag!"
"Oh Mann!"
"Das..." Maria stieß mehrere erstickte Schluchzer aus. "Ist mir... alles zu viel!"
"Was genau?", fragte ich.
"Ist doch egal!"
"Nee, jetzt sag!"
"Ich w-will das n-nicht sagen!"
"Soll ich raten?"
"Nein!"
"Okay... Ich hätte da nämlich sonst schon so ein paar Theorien."
"Die w-will ich gar nicht h-hören!"
"Okay", meinte ich wieder. "Dann lassen wir das."
"Ich weiß selber, wie peinlich ich bin."
"Du bist doch nicht peinlich!"
"Bin ich wohl!", entgegnete Maria. "Peinlich und k-komplett geistes-gestört!"
"Ach komm!"
"Das denken alle!"
"Wer ist alle?"
"Frag doch nicht s-so blöd!"
"Dann nenn mir Namen!", forderte ich. "Wer, meinst du, hält dich alles für geistesgestört?"
"Alle tun das!", antwortete Maria. "Du auch!" Sie schniefte. "Das w-weiß ich!"
"Was glaubst du denn, Süße?", fragte ich, löste meine Umarmung und suchte Marias Blick. "Ich würde niemals sagen, dass du geistesgestört bist! Und denken auch nicht!" Das war gelogen, dachte ich und spürte direkt, wie sich ein schlechtes Gewissen in mir breit machte. Tatsächlich hatte ich schon öfter genau das gedacht.
"Ich liebe dich!", sagte ich und küsste Maria die Tränen von den Wangen. "Das kannst du mir ruhig glauben."
Maria wich mir aus. "Ich liebe dich a-auch."
"Selbst wenn ich dich nerve?", fragte ich und grinste.
"Das h-hab ich n-nicht so ge-meint... was ich a-alles gesagt h-habe."
"Das glaub ich aber wohl."
"Nein, ich... war nur sauer." Maria schniefte. "Da r-rutschen mir m-manchmal so S-Sachen raus."
Die du dich sonst nicht traust, zu sagen, dachte ich. Und zog abermals ein paar Papierhandtücher aus dem Spender.
"Wollen wir noch mal Naseputzen?"
Ich hielt ihr die Tücher vors Gesicht. "Na komm!"
Maria zögerte, dann schnäuzte sie sich.
"Du darfst mich ruhig nervig finden, Süße." Ich wischte ihr die Nase ab. "Und gemein und was weiß ich. Knall mir das ruhig an den Kopf, wenn dir danach ist!"
"Das will ich gar nicht."
"Kannst du aber ruhig! Das halte ich schon aus", meinte ich. "Und für dich ist das besser, wenn du nicht immer alles in dich reinfrisst. Jetzt komm noch mal her!" Ich schloss Maria wieder in die Arme, fester diesmal und rieb ihr über den Rücken. "Geht's dir jetzt wieder gut?"
"Ja", antwortete Maria.
"Willst du noch was aus der Cafeteria?"
"Nein."
"Auch nichts zu trinken?"
"Nein, danke!"
Ich kaufte ihr trotzdem was. Eine Flasche Mineralwasser und dazu noch einen Schokoriegel. Maria aß ihn auf dem Weg zum Klassenraum.
Dort angekommen, warf ich einen Blick auf die Uhr.
"Bist du bereit?"
"Ja, also..." Maria zuckte mit den Achseln. "Bereit jetzt nicht wirklich."
"Aber du kriegst das hin", meinte ich.
"Muss ich ja wohl", sagte Maria und verdrehte genervt die Augen.
"Ich kann dich auch krankmelden, wenn du willst."
"Das wäre dann aber doch gelogen."
"Ja und?"
"Nee, ich zieh das jetzt durch!"
"Das ist die richtige Einstellung!", meinte ich lächelnd. Und nickte dann zur Tür. "Klopfst du an?"

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt