𝐇𝐎𝐑𝐈𝐙𝐎𝐍𝐓

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Als ich die Haustür hinter mir schließe, vertont das leise Vogelgezwitscher von draußen.
Durch die zwei großen Fenster, jeweils links und rechts neben der Haustür, fällt viel des Lichts
der warmen Frühlingssonne in den breiten Flur.
Ich streife den grauen Mantel ab und hänge ihn an den Kleiderhaken gleich neben mir.
Einen Moment lang sehe ich beinahe wie versteinert auf den hellgrauen Boden unseres Hauses, und versinke in Gedanken.
Da höre ich plötzlich laute Stimmen aus dem Wohnzimmer.
Ich gehe darauf zu, und will gerade in den Raum kommen, da halte ich inne.
„Es geht hier um Librae!"
Ich erkenne Nales Stimme sofort. Und sie klingt anders als sonst. So schwach, so verletzt.
Genau so wie an jenem Tag, als das diesjährige Jubeljubiläum verkündet wurde und uns klar wurde, welche Folgen es für uns haben würde.

Schnell lehne ich mich an die hell gestrichene Wand neben der Tür, die einen Spalt breit offen steht.
Ich versuche, so still wie möglich zu sein. Nale, und mit wem auch immer er dort spricht, sollen mich vorerst nicht bemerken.
Ich will wissen, worüber sie reden.
„Ja eben, das ist es ja!"
Es ist die Stimme meiner besten Freundin Atala.
Da fällt es mir ein, sie wollte heute Nachmittag herkommen.
Wahrscheinlich ist es schon vier Uhr und ich habe länger als erwartet bei Jinia verweilt.
„Was ist in dich gefahren? Diese Spiele haben sie zerstört, sie verfolgen sie bis heute nich jeden Tag und jede Nacht! Es sind eine ihrer schlimmsten Erinnerungen jemals. Sie hat Menschen, Freunde, Verbündete direkt vor ihre Augen auf die grausamste Weise sterben sehen, Atala! Wir beide können uns dieses Grauen nicht einmal vorstellen! Sie kann niemals, niemals dort hin zurückkehren!"
Ich habe Nale schon lange nicht mehr so entsetzt erlebt.
Einen Moment lang sagt keiner der beiden etwas.
Dann höre ich Atalas Seufzen.
„Aber es besteht die Chance dazu! So unfassbar schrecklich es ist, sie kann wieder zurück in die Spiele kommen. Und wieder zerstört werden...vielleicht sogar endgültig. Ich verstehe dich, Nale. Ich weiß, wie sehr du sie liebst. Wirklich. Und vor allem verstehe ich Librae. Aber wir können nicht zulassen, dass das immer so weiter geht. Jedes Jahr aufs Neue sterben Kinder in den Spielen und auch in den Distrikten! Jedes Jahr wieder wird jemand neues von schrecklichen Erinnerungen verfolgt. Ich will das nicht mehr. Das Kapitol muss für das bezahlen, was es getan hat. Und wenn das einer weiß, dann sie. Die haben ihr mehr wehgetan als allen anderen."
Wieder Stille.
Dann seufzt Nale.

„Du hast recht. Tut mir leid, dass ich dich so angebrüllt habe. Das ist nicht fair. Überhaupt nicht. Ich...ich will sie aber einfach nicht verlieren. Niemals. Aber es geht hier nicht eine Sekunde um mich. Es geht um sie. Um die anderen Sieger, um die Distrikte, vereint.
Und das Kapitol will sie alle, nein, uns alle scheitern und verlieren sehen. Und das bekommen sie auch, wenn wir einfach nur zusehen. Wenn es jedes Jahr wieder gleich läuft. Du...du hast so recht, Atala. Ich glaube, Librae wird es auch begreifen. Vielleicht nicht sofort, doch eines Tages wird sie verstehen, was sie tun muss. Und...und was dessen Folgen sein werden."
Nales Stimme klingt brüchig.
Ich sehe durch den Türspalt, wie Atala ihren besten Freund in den Arm nimmt.
Ich würde am liebsten zu ihnen, erfahren, wovon sie sprechen, doch irgendwie will ich den Moment nicht nehmen.
Ich weiß nicht was, doch irgendetwas scheint den beiden, vor allem Nale, sehr schwere Bedenken zu machen.
Und es hat offenbar mit dem Jubeljubiläum in einem Monat zu tun. Und mit mir.

Ich sehe, wie Nale sich wieder von Atala löst.
„Danke." lächelt er ihr zu.
Er hat wieder dieses blasse Gesicht, wie immer, wenn ihn eine schreckliche Angst plagt.
Ich sehe eine Träne, die ihm die Wange hinabläuft. Er weint sonst selten, was ist bloß los?
Doch irgendwie sehen seine grünen Augen auch entschlossen aus.

Nach einer Weile, in denen er sichtlich mit den Tränen kämpft, erhebt er wieder seine Stimme. Und sie ist überzeugender denn je.

„Wir müssen etwas tun. Ihnen zeigen, dass wir hier sind, dass wir stark sind, auch, ja, vor allem dann, wenn sie uns verletzt haben.
Librae muss sich freiwillig für das Jubeljubiläum melden."

Tribute von Panem | Stürmische SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt