Die Saat der Kriminologie

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Klick.


Das Bild der Frau erlischt augenblicklich, nach nur einem Moment des Nichts zeigt sich eine Aufnahme deren Position eine Sicht der ganzen Situation erlaubt. Die erschreckend weitflächige Blutlache, die Patronenhülsen die wie kleine Boote in ihr schwimmen, die Fließen die den ganzen Bildbereich ausdecken und ein Abfluss am Rande. Im Zentrum befinden sich zwei Personen.


"Die Position der Opfer zueinander lässt darauf schließen, dass sie bewusst voreinander aufgestellt wurden. Was können wir daraus schließen? Ja Sie in der zweiten Reihe."


Die Hand des Professors zeigt auf die rechte Seite des gewaltigen Hörsaales. Der weiße Ärmel seines schlichten Hemdes ragt unter dem kastanienbraunen Fließpullover hervor, der Knopf fein säuberlich durch die Öffnung gezogen, keine Falte in Sicht.


Der angesprochene Student räuspert sich, ein leises Murmeln ertönt, vermag sich aber nicht gegen die unruhige Gesamtschaft der Zuhörer durchzusetzen. Das Wort Zuhörer ist in diesem Fall eine Übertreibung. Durcheinander gewirbelte Stimmen aller Tonhöhen schallen durch den Saal, Reisverschlüsse öffnen und schließen sich, Flaschen zischen laut als die sich aufgestauten Gase entweichen, einzelne Lachlaute und auch Chöre von Gelächter kleiner Gruppen stören die Konzentration der wenigen die nicht nur hier sind da die Vorlesung auf ihrer Fächerliste steht.


Der Student fasst sich erneut Mut, räuspert sich noch stärker und beginnt, mit nun erhöhter Lautstärke gegen die anderen 112 Studenten anzukämpfen.


"Der oder die Täter wollten dass sich die Opfer sehen bevor Sie sterben." Der zwanzigjährige setzte sich wieder, seiner Antwort sicher, mit erkennbarem Stolz.


Nickend sagte Professor Reming, "Richtig erkannt, die Täter hatten ein persönliches Motiv, nicht sahen sie sich in die Augen, das männliche Opfer wurde zudem erst einige Momente nach dem weiblichen Opfer hingerichtet."


Ein erneutes Klicken. Die Übersicht verschwindet und eine Großaufnahme der linken Wange des Mannes erscheint an ihrer Stelle.


"Diese Blutspritzer hier" der Professor richtete den Laserpointer auf die dunklen Spritzer der schwarz-weiß Aufnahme, "sind durch den fatalen Schuss in den Kopf der Verstorbenen entstanden. Die Position und Winkel der Spritzer zeigen dass das Gesicht der Frau ungefähr 50 Zentimeter von dem des Mannes entfernt war. Eine DNA-Untersuchung hat bestätigt, dass das Blut der Frau zugeordnet werden kann" beendete Professor Reming seine Erklärung.



"Daraus stellen wir fest," fuhr er fort, "dass das persönliche Motiv hauptsächlich auf das männliche Opfer bezogen war."


Während der Professor dies sagte untersuchten seine Augen die Zuhörerschaft, das anscheinend fehlende Interesse an dem Fach "Grundlagen der Kriminologie" konnte ihm seit Jahren nicht mehr sorgen. Das Fach wurde von vielen als "Schnupperkurs" angesehen und viele der eingeschriebenen Studenten wird er im nächsten Semester auch nicht mehr wiedersehen. Ein leichtes Kopfschütteln konnte aber auch er sich nicht verweigern.


"Die Frau des Opfers wurde wahrscheinlich zu dem Zweck vor den Augen des Mannes getötet um Ihn seelisch anzugreifen."


Die wenigen Augen die den Professor interessiert folgten weiteten sich bei der Aussage, ein einzelnes Paar jedoch verblieb regungslos, kalt auch wenn sie sich seit Beginn nicht von der Präsentation lösen konnten. Die Augen gehörten zu einem achtzehnjährigem Jungen, auch ist der Rest seiner Erscheinung kühl, berechnet, er sitzt in der Reihe exakt in der Mitte des Saales, auf dem Sitz exakt im Zentrum. Seine blassen Lippen zu schmalen Linien zusammengepresst, eine Angewohnheit die er sich selbst nicht mal bewusst ist, denn sie zeigt sich ihm das erste Mal, da auch er das erste Mal ein Gefühl wahrnimmt. Unfähig und auch unerfahren Emotionen zu zeigen bleibt sein Gesicht steif, so wie es schon immer war. Seine hellblauen Augen eisig. Es beschreiben kann er nicht, es verstehen noch weniger, jedoch war ihm klar geworden welchen Pfad sein Leben nehmen wird. Kriminologie, dieser Bereich ruft aus zu ihm, durchdringt ihn absolut und erzeugt eine tiefe Erregung in jeder Faser seines Körpers. Wieso interessiert es ihn jetzt so sehr? Kein achtzehnjähriger ist heutzutage ein Fremder von Gewalt, in jedem Medium werden schon Kinder abgestumpft, gewaltvolle Filme und Bilder wirken schon früh auf jeden ein, durch Fernsehen und Zeitschriften, dann in den späteren Jahren auch durch das Internet.


Massaker und Gemetzel standen auch bei Steven Reary schon jahrelang auf dem Tagesplan. Emotionen sind ihm selbst bei dem schlimmsten Anblick fremd, reale Kriminalfälle und selbst Gewalttaten in seiner Gegenwart vermögen keine Regung zu erzeugen. Seine Eltern waren über dies schon immer besorgt, jedoch verhielt Steven sich meist vorbildhaft, mit Bestnoten in der Schule. Außer heute, außer dieser Fall des Doppelmordes an Adrian und Clara Daines, ermordet am 23ten September 1998. Für Steven beschreibt diese Reaktion die erste Emotion an die er sich erinnern kann, er ist von ihr gefesselt, überzeugt sein Leben darauf zu fokussieren dieses Gefühl wiederzufinden.


Als er sich wieder auf die Vorlesung konzentrieren kann bemerkt er dass diese schon vorüber war. Überrascht starrt er auf die Leinwand die nur das Einstellungsmenu des Beamers zeigt. Ein Blick nach links enthüllt leere Bänke, zurückgelassene Kaffe-Becher, ein vergessener Schal sowie ein weiterer Student, schlafend mit dunklen Augenringen. Auch die rechte Seite sowie die restlichen Bänke hinter ihm sind verlassen. Wie kann das sein? Er war einen Moment unachtsam, ja, aber er kann sich an nichts anderes erinnern. Immer noch perplex sucht er die Wände mit den Augen ab, wo ist denn nochmal die Uhr? Schließlich findet er sie, ist aber noch mehr besorgt. Eine Stunde ist vergangen seit dem Ende der Vorlesung. Ein einfacher Aussetzer kann niemals eine Stunde dauern, was ist nur passiert? Der einzige Weg auch nur die geringste Möglichkeit zu erlangen das Geschehene zu erklären besteht darin Kriminologie zu verfolgen, solange es sein muss.


Entschlossen erhebt sich Steven, seine Größe und sein Körperbau sind auch jetzt erkennbar, Er ist großgewachsen, 189 Zentimeter, sein Körper trainiert durch endloses Laufen und Besuche im Fitnessstudio. Das Fehlen der Fähigkeit Emotionen wahr zu nehmen ließ ihn mit einem Bedürfnis der Erfüllung die er sich durch das Aufbauen seines Körpers selbst geschaffen hat. Man brauch keine Gefühle um im Spiegel die Änderungen an sich selbst zu sehen.


Sein Gesicht ist jedoch noch immer halb verborgen, selbst in Vorlesungen behält er seine einfarbige Kappe an. Die schlichte Form und Farbe findet sich auch in dem Rest seiner Kleidung wieder. Schwarze Hosen, dazu passende schwarze Schuhe und ein graues, langärmliges Hemd. Die Knöpfe sind ein Loch versetzt zugeknöpft, der Kragen lässig weit geöffnet, ein Ärmel hochgezogen bis zum Ellenbogen, der andere schon wieder heruntergerutscht und voller Falten, die schwarze Hose teilweise verdeckt durch das lose Hemd.


Er greift nach seiner Wasserflasche, stopft Sie in den grauen Rucksack und läuft zu dem Ausgang des Hörsaals in einem überaus aufrichtigem Gang, in einer erhöhten Geschwindigkeit die er jedoch gewohnt ist. Die Türen drückt er mit einer übermäßig kraftvollen Bewegung auf und schlüpft hindurch, Sie knallen wieder zu und auch der letzte Student fährt erschrocken und verblüfft aus seinem Schlaf hoch. Es ist der dritte Oktober 2009.

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