6. Kapitel

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I don't know where ~ Chasing Cars (Snow Patrol)

Auf dem Flur lehnte ich mich gegen die Wand und ließ die letzte Stunden noch einmal Revue passieren. Zuerst bin ich ans Fenster getreten und um Punkt Mitternacht bin ich dann hier, wo auch immer das ist, gelandet. Auf einer vom Waldboden kreierten Grenze. Dann bin ich einer sprechenden Lichtkugel gefolgt, auf einen schwebenden Anhänger gesprungen, in ein Schloss eingebrochen und zu guter Letzt dort auch noch Angestellte geworden.

Ich atmete hörbar aus. Ganz schön viel für eine so kurze Zeit. Die Lichtkugel schaute mich kurz an und sagte dann: „Wenn du Fragen hast, nur zu.“
Man sah mir wohl an, dass ich
eine Millionen Fragen hatte. Ich stellte die erste, die mir in den Sinn kam. „Was hat es mit der Grenze im Wald zu tun? Wofür ist sie da?“

Die Kugel antwortete: „Das ist die Grenze von Licht und Dunkelheit. Wir sind jetzt auf der Seite des Lichts.“ Aha. Interessant.
„Warum sind wir eingebrochen?“
„Wir sind doch nicht eingebrochen!“, schimpfte das Licht. „Ich habe dich
lediglich ins Schloss mitgenommen. Ich wohne hier, denke ich , also ist es erlaubt. Glaube ich.“

Ich war gerade dabei zu fragen, warum Lichter sprechen und Wagen schweben konnten, als ein Mädchen um die Ecke gerannt kam. Sie musste ungefähr so alt sein wie ich und hatte braune Augen. Außerdem trug sie ein schwarzes Top mit Sternen und eine schwarze Jogginghose. Ihre schulterlangen, ebenfalls braunen Haare flogen um ihren Kopf, als sie vor mir eine Vollbremsung hinlegte.

„Hi, ich bin Marie. Ich soll dich zum Zimmer bringen“, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. Zu perplex um irgendwas zu sagen, schüttelte ich sie. Also die Hand, nicht Marie. Marie nahm meinen Arm und zog mir hinter sich her, noch bevor ich mich überhaupt vorstellen konnte. Wir liefen um eine Ecke und dann eine Treppe hinab.

Unten angekommen kamen wir an mehreren Zimmern vorbei und blieben schließlich vor einem stehen. „Nicht
erschrecken“, warnte mich Marie und schloss mit ihrem Schlüssel, den sie an einem Band um den Hals trug, die Tür auf. Ich erschreckte mich trotzdem.

Das Zimmer war ungefähr so groß, wie
mein Kinderzimmer zu Hause, es standen allerdings drei Betten drin. Die Wände waren weiß und mit Postern von Landschaften nur so übersäht. Doch das war gar nicht mal so schlimm. Viel schlimmer war der Boden. Überall lagen Klamotten, Papiere, Stifte, Kuscheltiere und Kissen verstreut. Und mittendrin saß ein circa sechzehn jähriges Mädchen mit langen schwarzen Haaren und einem blauen, mit Blumen bestickten Nachthemd.

Sie schaute uns mit dunkelgrünen Augen neugierig an. Okay, neugierig stimmte nicht. Sie sah feindselig aus. „Wer is n das?“, fragte sie in einem Ton, der zu ihrem Gesichtsausdruck passte. „Ich bin Emilia. Und du?“, antwortete ich trotzdem freundlich und schaute zu Marie, die inzwischen neben dem schwarzhaarigen Mädchen saß und
die Stifte beäugte. „Sophia“, nuschelte Sophia. Na, das konnte ja was werden. Langsam, damit ich nicht über die Sachen am Boden stolperte, ging ich zu dem Bett, das noch nicht bezogen war und setzte mich.

Sophias Stimme ließ mich zusammenzucken. „Sag mal, hast du sie noch alle?! Runter von meinem Bett!“ Hastig stand ich auf und sagte: „E…Es tut mir leid. Ich dachte, weil das Bett
noch nicht bezogen ist, ist es noch nicht benutzt.“ Sophia schnaubte verächtlich und Marie wies auf das kleinste Bett, das mit hässlicher, dunkelgrüner Bettwäsche bezogen war. Ich seufzte, stieg über die Gegenstände am Boden und ließ mich müde auf das Bett fallen.

Dabei hörte ich, wie unter mir
ein Blatt zerquetscht wurde. Ich zerrte es unter meinem Rücken hervor und merkte, dass es ein Regelblatt war. Ich fing leise an zu lesen:
„1. Aufstehen um 05:30 Uhr.
2. 06:00 - 07:45 Uhr Frühstück zubereiten.
3. Das Frühstück um 08:00 Uhr servieren.
4. Frühstücken in der Küche.
5. Den Abwasch machen.
6. 10:00 - 14:00 Uhr ruhig verhalten.
7. Mittagessen um 14:00 Uhr in der Küche.
8. Um 15:00 Uhr Kuchen servieren.
9. 15:00 - 19:00 Uhr ruhig verhalten.
10. 19:00 Uhr Abendessen in der Küche.
11. Ab 20:00 ruhig verhalten.
12. Nachtruhe um 22:00 Uhr.“

Ich schluckte. War das jetzt mein Tagesablauf? Ich nahm mir vor, in den Ruhephasen zu recherchieren, wo ich hier war, und wie ich wieder nach
Hause kam.

„Wo sind eigentlich deine Klamotten?“, fragte mich Marie und erst jetzt fiel mir auf, dass ich außer den Klamotten, die ich am Körper trug, rein gar nichts dabei hatte. „Ich habe keine", gab ich zu. Sie starrte mich ungläubig an und Sophia schnaubte verächtlich.
„Wir gehen morgen shoppen“, beschloss Marie dann einfach und damit war das Thema für sie erledigt.

Ich fragte sie vorsichtig: „Hast du zufällig ein Nachthemd oder einen Schlafanzug für mich?“ Sie nickte und
lief zu einem Schrank, der an der Wand stand. Sie machte die Tür auf und eine Hose flog ihr entgegen. Marie warf Sophia einen genervten Blick zu, holte dann ein knallpinkes Nachthemd mit
Krone heraus und hielt es mir mit einem schiefen Lächeln hin. „Ein anderes habe ich leider nicht“, erklärte sie entschuldigend.

Ich nahm es und stand unschlüssig auf. Sollte ich mich jetzt einfach so vor den
beiden umziehen? Was, wenn sie meinen Fleck sahen? „Brauchst du eine Einladung?“ Das kam natürlich von Sophia.
Ich drehte mich so, dass ich zur Wand schaute und zog mich aus. Meine
Mütze legte ich so auf mein Bett, dass ich sie gleich wieder anziehen konnte. Ich streifte mir schnell das Nachthemd über und zog meine Mütze auf, bevor ich mich umdrehte.

Marie war inzwischen in ihrem Bett und trug einen Häschen-Pyjama. Sophia saß noch auf dem Boden und schaute mich skeptisch an. Wahrscheinlich dachte sie gerade darüber nach, was sie Gemeines sagen konnte. Ich zuckte mit den Schultern und kroch unter die Decke. Die Mütze behielt ich an.

Als ich endlich lag, überfiel mich die Müdigkeit geradezu und ich schloss die Augen. Ich bemerkte noch, wie jemand das Licht ausmachte, dann schlief ich ein.

Die Kraft der Elemente - Alles liegt in deiner HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt