Mauern

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Für Cassandra.

Es fing im letzten Herbst an. Ich saß auf dem Boden meines Zimmers und verstand die Welt nicht mehr. Alles, an das ich geglaubt und gehofft hatte, glitt mir auf einmal aus den Händen. Und das Schlimmste daran war: Eigentlich hatte ich kein Recht dazu, mich zu beschweren. Immerhin hatte ich eine intakte Familie und eine handvoll ehrlicher Freunde , die wohl besonderer kaum sein konnten.

Ich hatte auf den ersten Blick also keinen Grund , an einem sonnigen wunderschönen Herbsttag den Kopf in melancholische Musik zu tauchen und in Selbstmitleid zu versinken. Und doch ging es mir auf eine unbestimmte Weise schlecht. Richtig schlecht. Nicht auf die Weise, wenn du weißt, dass dir dein Lieblingspulli nicht mehr passt oder du merkst , dass das Wochenende schon vorbei ist und du morgen früh Mathe hast. Nein, dieser Moment fühlte sich einfach nur schrecklich an. Es war, als ob mich jemand in die Vergangenheit schubsen würde, um mir zu zeigen, welche Fehler ich begangen hatte.

Ich bin der festen Überzeugung, dass alles einen bestimmten Grund im Leben haben muss. Menschen machen Fehler, schlimme Fehler und Verzeihbare. Aber wie wäre mein Leben jetzt, wenn ich die kleinen und die großen Fehler meines Lebens nicht begangen hätte? Welche Menschen würden in meinem Leben stehen?

Ich blickte an meinem Körper hinunter. Meine lange Narbe an meinem rechten Arm fiel mir natürlich sofort ins Auge. Sie stand für einen weiteren Fehler in meinem Leben und jedesmal, wenn ich in den Spiegel sah, wurde ich daran erinnert. Manchmal wünschte ich, mein Gedächtnis würde aussetzen und ich wäre verwirrt genug, um mir einzureden, dass ich mir die Narbe auf einem Spielplatz geholt hatte, weil ich gegen einen Baum gelaufen war. Die Geschichte würde mir tatsächlich jeder glauben.

Alle in meinem Umkreis sahen in mir das liebenswerte, tollpatschige Mädchen, das jeden Tag mit guter Laune startete und nur für Eines lebte. Für die Anderen. Doch seit der Nacht im letzten Dezember hatte ich meine Unschuld verloren. Mein ganzes Leben hatte sich in nur einer Nacht entschieden und die einzige, die diesen Umschwung zur Kenntnis nahm, war ich selbst. Wäre es so, dass ich im Geheimen einen Preis gewonnen hätte oder mein gesamtes Erspartes an UNICEF gespendet hatte, wäre das sicherlich nichts, wofür mir jemand den Kopf abreißen würde, im Gegenteil. Nur, so ist es nicht. Ich habe keinen Preis gewonnen. Ich habe keinen Menschen gerettet. Nein. Ich bin der Grund dafür, dass ein Menschenleben zu Ende ging. Und bis heute weiß es Niemand. Die Fassade steht noch. Doch ich erschaudere vor dem Zeitpunkt in meinem Leben, an dem diese eine Person kommt und jeden Stein einzeln ablöst, darunter nichts als Schutt und Asche. Und doch kannst du nie wissen, ob es der Richtige ist. Der, für den es sich lohnt, die Mauern einzureißen. Vielleicht ist das der Grund, das ich hier sitze und meinen Kopf am Liebsten mit Anlauf gegen den Beton der grauen Wand neben mir schleudern würde. Nein, da ist kein "Vielleicht", ich weiß es. Es ist Angst. Angst, die sich langsam an die Oberfläche kämpft und versucht, sich gegen die Verdrängung meines Bewusstseins zu wehren.

One past awayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt