Kapitel 1

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„Hölle, Liam, gib Gas!", schrie Dia, als er panisch die Autotür des VW-Buses zuschlug.

Das ließ sich der Elf nicht zweimal sagen. Er knallte seinen Fuß auf das Gas und das Auto machte einen Satz nach vorne. Sie rasten wie die Irren die Landstraße entlang. Dia starb tausend Tode, denn sein Fahrer fuhr schlimmer als jeder Verbrecher in einer Verfolgungsjagd im Film.

Doch das hier war kein Film. Sie waren zwei Verbrecher auf der Flucht, doch im Gegensatz zum Film würde ihr Tod das Ende sein – kein Abspann, kein Text, dass alles nur frei erfunden sei. Einfach Licht aus, Deckel zu. Vor weniger als einer halben Stunde hatten die beiden etwas Schlimmes getan, etwas, wofür sie gejagt werden würden.

Seit sie klein gewesen waren, waren sie beide die Haustiere eines tyrannischen Dämons gewesen. Sie dienten wie auch andere nur zu seiner Belustigung – Zirkustiere, nicht mehr. Ihre Eltern hatten sie beide als Kinder an ihn verkauft, mehr wussten sie nicht.

In dieser schlimmen Zeit der Demütigung hatten sie beide nur überleben können, weil sie einander hatten. Zwischen ihnen war eine Verbindung, die durch Blut und Tod geboren worden war. Während alle Kinder, die mit ihnen gekommen waren, bereits tot waren, so hatten sie es tatsächlich zwölf Jahre in dieser Hölle geschafft.

Doch gestern war der Tag gekommen, an dem Dia, die Kurzform für Diavolo, hätte sterben sollen. Gestern war sein siebzehnter Geburtstag gewesen und morgen würde es der von Liam sein. Dia war ein Vampir mit kurzen schwarzen Haaren und roten Augen. Er war launisch, laut und wild.

Liam war das genaue Gegenteil von ihm – ruhig, besonnen und zurückhaltend. Er entstammte der Rasse der Elfen, weshalb er auch die charakteristischen hellen, fast weißen Haare hatte, die ihm seidig über seine Schulter fielen. Seine blauen Augen waren wie zwei Seen, in denen man sich verlieren konnte.

Warum der Dämon Liam am Leben gelassen hatte, lag auf der Hand – er war einfach nur wunderschön. Seine milchige, zarte Haut, seine feinen Gesichtszüge, all das zog jeden in den Bann. Zudem hatte er rosige Lippen und spitze Ohren, die seinem Aussehen eine exotische Note gaben.

Dia dagegen war nur am Leben geblieben, weil er ein guter Kämpfer war, mit dem der Dämon hatte angeben können. Doch das hätte gestern enden sollen. Wenn ein Vampir das siebzehnte Lebensjahr erreichte, wurde er erwachsen und er erlangte seine vollständige Stärke. Die Stärke, die in Dia geschlummert hatte, war immens und der Dämon hatte diese gefürchtet.

Also hatte er seine Henker geschickt, um ihn vor dem Übergang zu töten. Liam hatte das vorausgesehen und ihn versteckt. In der Sekunde, als der Übergang eingesetzt hatte, hatte Dia die Macht erhalten, ihre Freiheit zu erkämpfen. Er war in das Zimmer des Dämons gestürmt und hatte ihn getötet. Dann war er mit Liam geflohen. Liam hatte ein Auto eines Angestellten gestohlen und hier waren sie nun – auf der Fahrt in einem alten VW-Bus ins Nichts.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und beide waren erschöpft. Es war Zeit, dass sie einen Ort zur Übernachtung suchten. Gerade als Dia das vorschlagen wollte, hörten sie ein Krachen. Liam riss panisch an dem Steuer, doch die Räder stellten sich quer. Mit quietschenden Bremsen fuhr das Auto in eine Baumreihe. Beim Aufprall schossen die Airbags hervor und retteten die beiden vor einem Schädelbruch.

Ein Pfeifen erklang in Dias Ohr. Er musste mehrmals blinzeln, bis die Umgebung scharf war. Hölle. Liam stöhnte. Beim Aufprall hatte der Gurt sich in seine Brust gegraben und eine schmerzliche Prellung verursacht. Benommen schaute er zu seinem Freund. „Dia. Alles gut?"

Die Frage war unschuldig und der Vampir wusste auch, dass Liam absolut nichts dafürkonnte, doch sein Naturell ging mit ihm durch. Er riss sich den Sicherheitsgurt vom Leib und trat die Tür auf. Mit einem lauten Schrei schlug er wütend auf die zerdrückte Motorhaube, sodass eine große Delle entstand.

„Scheiße!"

Auch der Elf befreite sich von dem Gurt und verließ das Auto. Als er auftrat, musste er sich an der Türklinke festhalten, weil seine Beine nachzugeben drohten.

„Dia. Es tut mir leid", sagte er und schaute auf den Boden.

Dia wollte gerade loslegen, merkte jedoch, dass der Unfall Liam stark zugesetzt hatte. Also schluckte er seinen Zorn für einen Moment hinunter und ging zu seinem Freund. Der Vampir schlang einen Arm unter dessen Achsel, damit er sich auf ihm abstützen konnte. Sie gingen ein Stück und entdeckten eine Feuerstelle. Vorsichtig setzte er Liam dort ab und ging zum Auto zurück, um zu schauen, ob es irgendetwas gab, das nützlich war.

Tatsächlich war der Kofferraum mit Picknickdecken ausgelegt, die etwas schmutzig waren, doch besser als nichts. Zudem stand ein Kanister Wasser im Kofferraum, das der Fahrer wahrscheinlich als Spritzwasser nutzte. Er lud sich alles auf und ging zu seinem Freund zurück. Er nahm zwei der drei Decken und wickelte Liam darin ein und gab ihm etwas zum Trinken.

Erneut lief er zu dem Auto zurück und durchsuchte das Handschuhfach. Er fand drei Schokoriegel, ein Feuerzeug und sonst nur Papierkram. Daraufhin sammelte er ein paar Äste ein, legte diese auf die Feuerstelle und benutzte den Papierkram als Anzünder. Es dauerte etwas, doch dann begann das Feuer zu brennen und tauchte die Umgebung in ein helles, warmes Licht.

Nun nahm er die übriggebliebene Decke und wickelte sich ein. Ebenfalls erschöpft, setzte er sich neben Liam, der sich an ihn lehnte.

17 [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt