59. Was kriegst du dafür?

6 1 0
                                    

°○ Leon ○°

Nachdem ich Minchen aus dem Kindergarten abgeholt hatte, waren wir noch beim Bäcker zum Waffeln essen gewesen. Das hatte meine Schwester sich gewünscht. Und ich hatte es ihr erfüllt, genauso wie der Besuch jetzt beim Spielplatz. Ihr Benehmen heute im Kindergarten war laut Judith gut gewesen, da sollte ich Minchen vielleicht jetzt öfter mal solche Belohnungen in Aussicht stellen.
"Was möchtest du jetzt zuerst? Rutschen oder-"
"Schaukeln!", fiel meine Schwester mir ins Wort, noch bevor ich meine Frage überhaupt zuende stellen konnte.
Ich grinste. "Was frag ich überhaupt?"
"Mit Anschubsen!"
"Nee, das kriegst du auch alleine hin", meinte ich. "Komm, renn mal los!"
"Kitzelmonster!"
"Das spielen wir gleich", versprach ich. Tastete in meiner Tasche nach den Lucky Pins. Und entdeckte im selben Moment Emma weiter hinten im Sandkasten.
"Leon, musst mich fangen!"
"Guck mal, wer da sitzt!"
"Nicht doofe Schnullerbaby!"
Schnullerbaby, dachte ich, wo hatte Minchen das schon wieder her?
"Lass uns mal Hallo sagen!"
"Will nicht sagen", meinte meine Schwester. "Jetzt schaukeln!"
"Dann geh schaukeln!"
"Du musst-"
"Ich komme gleich nach", unterbrach ich Minchen. Dann lief ich rüber zum Sandkasten.
"Hallo Emma!"
Das kleine Mädchen, welche sich bislang in scheinbar völliger Konzentration mit einem langen Stock beschäftigt hatte, um immer mal wieder damit im Boden herumzukratzen, hob kurz den Blick, bevor sie sich dann wieder ihrem Spiel zuwandte.
"Na, alles gut bei dir?"
"Hm-hm."
"Was machst du schönes?", fragte ich weiter.
"Loch graben", antwortete Emma. Sie näselte.
Ich wandte mich um und schaute nach Minchen, die hing wieder mal bäuchlings über der Schaukel und drehte sich an deren Ketten ein, dann sah ich zurück zu Emma.
"Bist du ganz alleine hier?"
"Hm-hm."
"Wo ist denn deine Mama?", fragte ich weiter
"Weiß nicht."
"Und dein Bruder?"
"Kommt wieder."
"Hat er dich hierher gebracht?", wollte ich wissen.
"Ja", antwortete Emma.
"Und dann hat er dich hier sitzen lassen?", fragte ich weiter.
"Hm-hm."
Erneut ließ ich die Augen über den Spielplatz wandern, den Wendeplatz weiter hinten mit den dort angrenzenden Mietgaragen, dann stieß ich ein ungläubiges Seufzen aus. Wie gehirnamputiert konnte man sein? Das war doch unfassbar! Hatte Adrian jetzt wirklich seine Schwester hier abgeladen und war dann weg? Wie lange war das her?
Ich musterte Emma jetzt noch eingehender.
Ihre Lippen waren spröde, die Haare sichtlich vom eisigen Wind verstrubbelt und ihre Hände waren gerötet, die Haut teilweise schon blutig aufgesprungen.
"Ist dir kalt?"
"Kalt.", antwortete Emma, verzog dann das Gesicht und nieste, grüne Rotzfäden schossen ihr dabei aus der Nase, bis zum Mund hinunter.
"Oh Mann!" Wie ekelig war das jetzt, bitte? "Bist du erkältet?"
"Kältet", antwortete die Kleine, schniefte und-
"Nee, komm!" Schnell hielt ich ihren Arm fest, bevor sie diesen zum Abwischen benutzen konnte. "Dafür nehmen wir besser ein Tuch... guck, hier!", sagte ich, zog ein Taschentuch aus dem Päckchen, und hielt es ihr vors Gesicht. "Jetzt schnaub mal eben aus!"
Emma tat es.
"Und weiter! Kräftig!"
Ein zweites Schnäuzen. Dann noch ein drittes, diesmal mit einem hörbaren Quietschen in der Nase.
Das ist ja schon niedlich, dachte ich und nahm mir noch ein frisches Tuch. Aber irgendwie auch erschreckend bei so einem kleinen Mädchen, wenn man bedenkt, wie lange sie schon hier draußen frieren und sich dabei mit dem ganzen Schnodder hatte herumquälen müssen, ohne dass ihr mal irgendjemand damit geholfen hatte.
"Leon, komm schaukeln!"
"Ich hab noch eben was zu tun."
"Nichts tun, schubsen!", rief meine Schwester zurück.
Ich ignorierte sie, putzte Emma die Nase zuende, nahm als nächstes die Dosensalbe und schmierte ihr etwas davon rauf, zuerst auf den Mund und schließlich noch auf ihre aufgesprungenen Knöchel.
"Wollen wir jetzt mal schaukeln gehen?"
"Mh-mh."
"Was willst du dann machen?", fragte ich. "Rutschen?"
Emma schüttelte den Kopf.
"Klettern?"
"Nein."
"Nein?"
"Will warten."
"Auf deinen Bruder?"
"Leon nicht mit doofe Baby sitzen!", schimpfte Minchen, die war jetzt rüber gekommen und fing an, mich am Arm zu ziehen. "Komm mit, Schaukel schubsen!"
"Ich muss mich jetzt erst mal um Emma kümmern! Dann komm ich, okay?"
"Nicht kümmern um Baby!" Minchen grunzte, dann spuckte sie vor uns aus. "Behinderte Fotze!"
"Sag mal, spinnst du?" Ich starrte sie an. "Wo hast du solche Worte her?"
Minchen antwortete nicht, ging stattdessen dazu über, nach Emma zu boxen, so unvermittelt, dass ich mal gerade noch rechtzeitig dazwischen kam.
"Was wird das jetzt?" Ich blockte ihre Schläge ab. "Was willst du von ihr?"
Immer noch keine Antwort, dafür jetzt wieder Spucke. Und bald darauf Minchens Finger, die mir in die Arme kniffen. Mich kratzten. Die alles versuchten, um mich aus dem Weg zu kriegen.
"Will kloppen!"
"Hör auf!"
Ich packte meine Schwester an den Armen, daraufhin flippte sie aber nur noch mehr aus, begann jetzt nach mir zu treten. Zu beißen. Und zu schreien:
"Fotze, Fotze! Babyfotze! Fotze, Fotze-"
"Jasmin! Es reicht!" Ich stieß sie hart zu Boden, kam dann über sie und hielt sie fest. "Verdammt noch mal! Was ist denn falsch bei dir?"
"Will kloppen!"
"Du reißt dich jetzt zusammen!"
"Blau hauen!" Meine Schwester kämpfte weiter. "Fresse schlagen! Dumme Dreck-"
Den Rest des Wortes erstickte ich unter meiner Hand. Minchen biss hinein, daraufhin nahm ich direkt den ganzen Arm. Und suchte ihren Blick.
"Gefällt dir das so?" Ich drückte ihr den Arm noch fester ins Gesicht. "Hier! Beiß noch mal zu!"
Minchen tat es nicht.
"Komm schon!", drängte ich sie. "Du bist doch so stark! Dann zeig mal, was du kannst!"
Keine Reaktion.
"Beiß mich!"
"Mh-mh-mh-mph!"
"Willst du was sagen?"
"Mhm!"
"Oder willst du wieder schimpfen?"
"Mh-mh!"
"Okay." Ich nahm den Arm wieder weg, hielt sie trotzdem weiter fest. "Dann rede!"
"Will nicht festhalten!"
"Das versteh ich gut", meinte ich, spürte dabei jetzt Tränen in meinen Augen brennen. Und drängte sie zurück. "Ich würd dich auch lieber loslassen."
"Bitte loslassen!"
"Tust du mir dann wieder weh?"
"Nein!" Minchen begann zu weinen. "Will nicht böse sein! Leon, bitte tschulligung! I-I-Ich w-will nicht b-b-böse sein!"
"Ah ja?", fragte ich. "Und warum willst du dann Emma hauen?"
"Will nicht h-ha-hauen!"
"Hast du doch gerade eben noch gesagt!"
"Bitte, l-lass los!"
"Wieso? Damit du mich weiter verprügeln kannst?"
"W-W-Will nicht p-pr-" An dieser Stelle gingen Minchens Worte in Husten über, welches erst erstickend leise, dann so laut wie das Kläffen eines Hundes war.
Ich hielt sie weiter gepackt, ließ lediglich ihrem Oberkörper etwas mehr Spielraum, damit sich der Husten wieder legen konnte, und wartete.
"Ich will nicht... prügeln."
"Und was willst du dann?", fragte ich. "Wieder spucken?"
"Nein!"
"Schimpfen?"
"Will lieb sein!"
Ich ließ sie noch ein wenig zappeln, tat so, als überlegte ich und nickte schließlich.
"Gut! Wenn das dann klappt, kann ich dich ja los-"
"Bitte! Leon loslassen!"
"Da kommt dann aber auch nichts mehr!"
"Bin lieb!"
"Versprochen?"
"Versprochen!"
"Na schön!", sagte ich, nachdem ich mir ihre Worte scheinbar lange noch durch den Kopf hatte gehen lassen. "Dann gucken wir mal." Ich ließ sie los.
Minchen setzte sich auf, rieb sich beide Handgelenke.
"Tut's weh?"
"Nein."
"Ich wollt dich auch gar nicht so festhalten."
"Tschulligung, Leon!" Minchen kam zu mir, küsste und umarmte mich. "Nicht weinen!"
Ich schniefte, rieb mir dann schnell über die Augen. "Tu ich ja gar nicht."
"Will nicht traurig!"
"Ich bin nicht traurig. Alles gut!", meinte ich und sah zu Emma rüber, die saß immer noch am Rand des Sandkastens, den Stock in der Hand und senkte schnell den Blick, sobald unsere Augen sich trafen.
"Geht's dir auch gut, Kleine?"
Emma antwortete nicht.
Ich lief zu ihr, hockte mich vor sie hin. "Hat dir das gerade Angst gemacht, dass wir so laut waren?"
"Hm-hm."
"Aber jetzt ist's doch wieder okay, oder?" Ich streichelte Emma über den Rücken. "Guck, Minchen ist nun auch lieb zu dir. Das stimmt doch, Minchen!"
"Bin lieb", bestätigte meine Schwester, gleichzeitig setzte ein lautes Knurren ein.
"Wow!" Ich wandte mich wieder an Emma. "War das dein Bäuchlein?"
"Ja."
"Der hört sich ja wütend an!"
Emma lächelte verlegen.
"Hattest du noch kein Mittagessen?", fragte ich.
"Nein"
"Dann hast du doch bestimmt Hunger, oder?"
Schulterzucken, gefolgt von einem weiteren Knurren.
"Oh wei, oh wei!", meinte ich, sah nun gleichzeitig Adrian vor mir, diese behinderte kleine Ratte, und meine Faust, wie sie ihm die Fresse polierte.
Das war doch echt das letzte!
Ein kleines Mädchen einfach so hungern zu lassen! Und sowieso, sie einfach hier sitzen zu lassen, ganz allein in der Kälte! Für sowas hatte sie ja noch nicht mal die richtigen Klamotten an!
Ich nahm Emmas Hände in meine. Sie waren immer noch gerötet und fühlten sich eiskalt an. "Wollen wir dir mal was leckeres holen?"
Emma schniefte wieder.
"Worauf hast du Lust?"
Ich suchte ihren Blick.
"Brötchen, Pizza... oder, wie wär's, wir fahren ein bisschen mit dem Bus und holen dir ne Pommes?" Das wäre ja immer noch besser, als sie hier weiter vor sich hinvegetieren zu lassen, überlegte ich. Sollte ihr Superbruder sie halt holen kommen, von wo auch immer weg!

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt