26. Kapitel

33 4 0
                                    

Get out of my heart ~ SNAP (Rosa Linn)

Erst wusste ich nicht, was er meinte, doch dann drehte ich mich um und sah, dass der Stein und das Buch in der Luft schwebten. Kurze Zeit später fielen sie wieder auf den Boden. Die Stränge in meinem Kopf waren wieder einer. Jetzt verstand ich es. Benjamin hatte mir gezeigt, wie ich mehrere Dinge gleichzeitig schweben lassen konnte. „Jetzt du", sagte er. Ich nickte, doch bevor ich anfing, schloss ich die Klappe wieder. Ich wollte nicht riskieren, dass ich ihm ausversehen den Eintritt in meinen Kopf gewährte.

Ich schloss die Augen und stellte mir, wie ich es bei Benjamin gesehen hatte, einen Strang vor. Meiner hatte die Farbe lila. Er sah wunderschön aus. Ich stellte mir vor, dass ich mit den Fingern an einem Ende zog und tatsächlich bildeten sich zwei Stränge. Ich ließ sie sich um einen Stein und ein Buch wickeln und die Sachen schweben. Dann öffnete ich meine Augen wieder und sah, dass beide Dinge einige Zentimeter über der Erde schwebten.

„Ha!", rief ich triumphierend. Ich hatte es gleich beim ersten Mal geschafft. Mit völliger Konzentration flog ich den Stein und das Buch in den Kreis und kappte dann die Stränge. Mit einem Rumms fielen sie zu Boden. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich hatte zwar Benjamins Hilfe gebraucht, aber dann hatte es gleich geklappt. Und seine Hilfe war gar nicht so schlimm gewesen. Ganz im Gegenteil. Allerdings würde ich das niemals zu ihm sagen.

Benjamin trat vor mich und sagte: „Jetzt wiederhole das noch zwanzig Mal und wir sind fertig."
Ernsthaft? Kein Wort darüber, wie gut ich mich angestellt hatte?! Ich schnaubte wütend. Er war einfach nur völlig bescheuert. Angetrieben durch meine Wut wandte ich mich dem Buch und dem Stein zu und ließ sie schneller als davor hin und her schweben. Im Nu waren die zwanzig Mal geschafft und ich schaute ihm kalt in die Augen. Wenn er mich scheiße behandelte, würde ich das ja wohl auch hinbekommen. Auch wenn es sich bei ihm wahrscheinlich nicht so schmerzhaft anfühlen würde.

Er erwiderte kurz meinen Blick und sagte dann: „Du kannst gehen." Ich nickte emotionslos und ging so an ihm vorbei, dass ich ihn mit der Schulter nach hinten schubste. Zumindest hatte ich das vorgehabt. In Wirklichkeit bewegte er sich keinen Millimeter und da ich mit meiner Schulter gerade mal seinen Oberarm erreichte, torkelte stattdessen ich ein paar Schritte zurück. Das war ja mal ganz toll gelaufen. Amüsiert und mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er mich an. Ich wurde rot und richtete die Augen auf den Boden. Schnurstracks lief ich an ihm vorbei.

Sobald ich mir sicher war, dass Benjamin mich nicht mehr sehen konnte, fing ich an zu rennen. Meine Schulter kribbelte von seiner Berührung. Ich rannte, bis ich ganz außer Atem war und wie eine Ertrinkende nach Luft schnappte. Keuchend ließ ich mich auf den Boden sinken. Irgendetwas stimmte nicht. Erst jetzt fiel mir auf, dass irgendetwas nicht logisch war. Ich wusste nur nicht was ...

Nicht schon wieder! Nach der peinlichen Situation wollte ich nur weg und hatte nicht auf den Weg geachtet. Und jetzt hatte ich mich wieder einmal verlaufen. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, dass ich so wenig Orientierungssinn besaß. Prüfend schaute ich mich um, doch alles, was ich sah, waren Bäume und Büsche. Hier gab es noch nicht mal einen Weg.

Wie viel Uhr war es eigentlich? Ich wusste es nicht. Ich hatte seit heute Morgen in der Küche keine Uhr mehr gesehen. Da war es elf gewesen. Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Es mussten mindestens drei Stunden sein. Egal. Das war jetzt nicht mein größtes Problem.

Ich stand wieder auf und schaute mir nochmals meine Umgebung an. Ich beschloss, einfach in irgendeine Richtung zu laufen und zu hoffen, dass ich in die richtige lief. Kurzentschlossen ging ich gerade aus.

Ich musste bestimmt schon vier Stunden gelaufen sein, als sich mein Magen lautstark meldete. Ich hatte vor sieben Stunden das letzte Mal etwas gegessen. Inzwischen hatte ich es aufgegeben zu hoffen, dass ich den richtigen Weg gewählt hatte. In der darauffolgenden Stunde wurde mein Hunger immer stärker und vom Schloss war weit und breit nichts zu sehen.

Schließlich ließ ich mich erschöpft an einem Baum nieder. Ich zog die Knie an und legte meinen Kopf darauf. Es war hoffnungslos. Verzweifelt schloss ich die Augen und versuchte die Tränen zurückzuhalten, was mir nicht sonderlich gut gelang. Deshalb bemerkte ich auch erst nach einer Weile, dass mir jemand sanft über den Kopf streichelte. Ich riss meine Augen auf und drehte mich um. Da war niemand. Hatte ich jetzt schon Wahnvorstellungen oder was?

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufschrecken." Woher kam diese Stimme? War hier eine Liesel? Verwirrt blickte ich mich um, als plötzlich ein kleines Wesen vor mir auf den Boden sprang. Ich zuckte erschrocken zusammen und schrie auf. Ich traute meinen Augen kaum. Vor mir stand ein kleines Männchen mit hellblauen Augen, einer dunkelblauen Hose und azurblauem T-Shirt. Es reichte mir bis zum Knie. Es sah aus wie ein Kobold. Ein kleiner, blau gekleideter Kobold.

„Auch wenn es dir egal ist, tut es mir leid. Du kannst ja nichts dafür, dass es allen egal ist", sagte der Kobold mit erstaunlich hoher Stimme. „Warum sollte es mir egal sein, dass du dich entschuldigst?", fragte ich verwirrt und schüttelte kurz darauf den Kopf. Das war doch total abgedreht. Ich redete mit einem Kobold! Das war nicht normal. Allerdings war in Salabon nichts normal, was ich bisher erlebt hatte. Ich sollte mich wahrscheinlich einfach darauf einlassen, was es hier gab.

Der Kobold blickte mich mit großen Augen an. „Hallo?", fragte er dann unsicher.
"Hallo", antwortete ich
belustigt.
„Wie ... Aber du ...", stotterte das Männchen herum. Was war denn los? „Alles in Ordnung?", erkundigte ich mich bei ihm und wunderte mich über sein völlig verwirrtes Gesicht.

„Kannst du mich verstehen?", fragte er extra langsam. Ich nickte. „Ja, warum sollte ich es nicht?" Noch während ich das sagte, kam mir der Gedanke, dass es sich mit Kobolden wie mit Lieseln verhalten konnte. Um diese Theorie zu prüfen, fragte ich: „Du bist es nicht gewohnt, dass ein Men... äh eine Aniral mit dir redet, oder?" Perplex schüttelte der Kobold den Kopf. Ich hatte Recht gehabt.

„Was machst du hier?"
„Ich wohne hier. Und du?", antwortete er immer noch leicht verwirrt.
„Ich habe mich verlaufen. Du kennst nicht zufällig den Weg zum Schloss, oder?", fragte ich. Der Kobold schüttelte bedauernd den Kopf.
„Scheißdreck", entfuhr es mir. Entschuldigend schaute ich den Kobold an.
„Willst du reinkommen?", fragte er.
„Wo rein?"

„In unser Haus. Meine Mama kann dir bestimmt was Gutes zu essen machen."
Es klang ganz selbstverständlich, dass er mich zu sich einlud. Und da ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, nickte ich. „Ich heiße übrigens Emilia", stellte ich mich endlich vor.
„Ich bin Merle", antwortete der Kobold lächelnd. Ich stutzte. „Moment mal. Bist du kein Junge?" Ich hatte die ganze Zeit angenommen, dass vor mir ein Junge stand.

„Nein! Also bitte! Jungs sehen doch komplett anders aus!" Die Vorstellung, ein Junge zu sein, schien absolut undenkbar für Merle zu sein. Ich grinste.
„Jetzt komm", forderte sie mich auf und ich stand auf. Sie sprang wie ein Äffchen den Baum hinauf, unter dem ich gesessen hatte und drehte sich oben zu mir um. „Warte kurz!", rief sie mir zu und verschwand im nächsten Moment in der Baumkrone.

Die Kraft der Elemente - Alles liegt in deiner HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt