„Wehe du schreist jetzt!" ⚠️

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POV Inéz

Ich renne unglaublich schnell, so schnell, dass ich die Orientierung bereits seit Minuten verloren habe. Ich renne einfach nur,
mein Atem erstickt vor Anstrengung,
meine Beine schmerzen unerträglich.
Aber ich renne weiter und das ist gerade alles, was zählt.

Ein Vogel bin ich, entkommen aus dem goldenen Käfig, ohne Perspektiven oder Orientierung. Es ist ungeheuer dumm, in einer fremden Stadt, durch einen riesigen Wald, BEI Dunkelheit, von zwei Drogenbossen abzuhauen.

Aber wer wäre in solch' einer Situation nicht dumm? Ich habe die Chance gesehen, sie ergriffen und an nichts gedacht, außer Jaro, Seth und das ganze Trauma der letzten Tage hinter mich zu bringen.
Ich bin kein Feigling, in der Tat, bin ich dafür ziemlich mutig.

~

Ich trampele quer durch den Wald, in der Hoffnung, dass er irgendwann mal ein Ende nimmt und ich die Berliner Stadtlichter sehe, doch vergebens.

Ich reibe meine Handflächen aneinander und könnte mich direkt wieder aufregen.
Denn ich lerne auch wirklich nie aus meinen Fehlern, es wird dunkel und kalt, aber ich habe natürlich keine Jacke mitgenommen.

Nein, diesmal trage ich keine Schuld. Jaro hat mir versichert, das Wetter sei gut ....

... wobei, er hat ja auch nicht damit gerechnet, dass ich abhaue und die ganze, lange Nacht im Wald verbringe.

Ich komme zu dem - nicht hilfreichem - Fazit, dass mir doch die Schuld zu Teil wird, zumindest was die bekloppte Jacke betrifft.

Ich schlendere ahnungslos durch das Dickicht, während sich meine Augen einfach nicht an die Dunkelheit anpassen wollen.
Autsch! Das war wohl eine ungelegene Wurzel, oh und noch eine..., mist, jetzt bin ich gestolpert und rücklings auf den harten Erdboden aufgeprallt.

Danke Mutter Natur für deine Hilfe, ohne dich, würde ich jetzt nicht schmerzerfüllt hier liegen und den Boden küssen!

Ich hasse mein Leben.
Einfach nichts will klappen und ich beginne zu weinen. Ich komme mir mittlerweile selbst erbärmlich vor, aber das alles ist auch unnatürlich.

Wessen Mutter stirbt schon - aus unerklärlichen Gründen - am sechsten Geburtstag ihres Kindes?
Wer wird vom eigenen Vater geschlagen und als Nutte betitelt?
Vom achso besten Freund beinahe vergewalt*gt, dann gegen den Willen von Mafiosos verschleppt, gegen eine Zugwand gestoßen, von einem Typen namens Jaro angeschmachtet und als Krönchen obendrauf, fotografiert mit anschließendem Flucht Manöver?
Wer endet daraufhin ohne jeglichen Plan in einem fremden Wald, ohne Jacke, Essen oder einen vernünftigen Plan?

Na ich! Das klingt doch ziemlich nach meiner Lebensgeschichte.

~

Nach Stunden der Verzweiflung und Umherlaufen, umklammere ich einen Baumstamm.
Ja, so verrückt es auch klingen mag, ich brauche jetzt eine Umarmung. Am besten eine, die mich erdrückt, mich erstickt, mich meiner Sorgen endgültig befreit.

„Lieber Baum, ich danke dir ungemein." Lasse ich meinen neuen Kumpel wissen und lache über mich selbst. Ein paar Stunden verloren im Wald und schon kann ich in die Klapse eingewiesen werden... BRAVISSIMO.

Ich sacke neben meinem neuen Freund auf den Boden und zähle imaginäre Schafe. Meine Mum hat früher immer mit mir Schäfchen gezählt, wenn ich nicht einschlafen konnte. Heute weiß ich, dass ich nicht wegen den Schäfchen eingeschlafen bin, sondern weil ich neben einem Menschen lag, der mich liebte und schützte. Einem Menschen, der heute nicht mehr da ist.

Mum, was würde ich nur dafür geben, dich wieder bei mir zu haben.

Wieso hast du mich verlassen?
Wieso Mum...ich gehe hier verdammt nochmal kaputt. Ich zerfalle, wie die Mohnblumen am Ende ihrer Saison.

Bring mich nicht in VersuchungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt