Kapitel 50

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„Ja, also hier müssen wir unbedingt noch andere Angebote einholen. Ich bin mir sicher, dass wir dann den Lieferanten noch einmal ordentlich drücken können." Ina lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück. Ja, sie war den Tag, nach dem sie erfahren hatte, wer die Frau war, die sie im Stich gelassen hatte, wieder ins Büro zurückgekehrt. Hier war ja in der Zeit vorher genug liegen geblieben. Das musste alles wieder aufgearbeitet werden. Sie griff nach einer Dokumentenmappe und schlug sie auf. „Das ist heute reingekommen." Ina entnahm der Mappe ein mehrseitiges Schreiben und reichte es Linus, der ihr gegenüber am Schreibtisch saß. „Wenn wir ein gut kalkuliertes Angebot dafür abgeben, bekommen wir den Auftrag garantiert. Ich bin mir sicher, dass wir da einen guten Gewinn machen können. Ich werde mich gleich an die Kalkulation setzen." Linus legte das Schriftstück vor sich auf den Tisch und schaute Ina nachdenklich an. Klar, war es schön, dass sie seit ein paar Tagen wieder hier im Büro war und ihn nach Leibeskräften unterstützte. Obwohl, das war eine Untertreibung. Sie unterstützte ihn nicht, sondern hatte eher alles an sich gerissen. Und das machte im Sorgen. In den letzten Tagen war sie keinen Tag vor Mitternacht aus dem Büro gekommen. Und das würde sich mit Sicherheit nicht ändern, wenn sie gleich das nächste Projekt an Land zog. Es war fast so, als versteckte sie sich hier in der Firma davor, sich mit ihrer leiblichen Mutter auseinanderzusetzen. Linus wusste von Frau Senger, dass Genia jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten in der Villa auftauchte. Vielleicht sollte er ihr mal den Tipp geben, es zu nachtschlafender Zeit zu versuchen, damit sie Erfolg hatte. Ja, er war der Auffassung, dass es durchaus an der Zeit war, dass Ina zumindest ihrer leiblichen Mutter die Chance gab, sich zu erklären. Sie konnte dann ja immer noch entscheiden, keinen Kontakt zu ihr haben zu wollen. Das war durchaus legitim. Auch wenn er hoffte, dass das nicht passierte. Es würde mit Sicherheit seine Freundschaft mit Luca belasten. Aber auch das war nebensächlich, wenn Ina sich dann so entschied. Trotzdem setzte eine Entscheidung seiner Meinung nach voraus, dass man auch alle Tatsachen kannte. Bis jetzt wusste Ina aber nur was passiert war und nicht warum. Natürlich konnte er verstehen, dass Ina immer noch an dem Ganzen kaute. Es war ja ein ziemlicher Schock gewesen. Aber ihre Art es einfach zu ignorieren, war auch nicht die Lösung. Seine Vermutung war es, dass Ina sich hinter der Arbeit zum einen versteckte. Wer mit Arbeit eingedeckt war, hatte keine Zeit über andere Sachen nachzudenken. Und zum anderen hatte er das Gefühl, dass ihr Ehrgeiz die Firma betreffend neu entflammt war. Wahrscheinlich eiferte sie ihrem Vater im Moment noch mehr nach, um zu beweisen, dass sie auch wirklich seine Tochter war, die nach ihm kam und nicht nach ihrer leiblichen Mutter. So als würde sie jegliche Verbindung damit kappen können und ihm beweisen, dass sie es wert war, dass er sie bei sich behalten und nicht auch weggegeben hatte. Okay, das waren nur seine laienhaften psychologischen Einschätzungen, aber er war sich ziemlich sicher, dass er damit nicht total falsch lag. Und egal, was dran war oder nicht, es war auf keinen Fall gesund sich so in die Arbeit zu verbeißen. Das hatte er damals schließlich deutlich vor Augen geführt bekommen, als sein Kollege tot vom Bürostuhl gekippt war. Sofort spürte Linus wieder dieses Gefühl in sich. Es war eine Art Panik gemischt mit dem Empfinden gefangen zu sein und nicht wegzukönnen, obwohl alles in ihm danach schrie einfach alles stehen und liegen zu lassen und möglichst weit weg zu kommen. Aber das ging auf keinen Fall. Das konnte er Ina jetzt nicht auch noch antun. Und ohne Ina wollte er das eigentlich auch nicht. Nein, seine Pepincito gehörte zu ihm. Umso wichtiger war es, dass er sie dazu brachte sich mit Genia auseinanderzusetzen und dann wieder bei der Firma etwas kürzer zu treten. Dann gab es mit Sicherheit auch wieder Freiräume für sie beide, die sie nutzen könnten und das Gefühl im Hamsterrad gefangen zu sein, würde wieder verschwinden. „Wir können uns das ja morgen anschauen. Jetzt machen wir Feierabend!" Linus legte die Papiere zurück auf den Schreibtisch. „Was? Nein, auf keinen Fall! Hast du nicht gesehen, dass wir nicht mehr lange Zeit haben, unser Angebot einzureichen?" „Doch das habe ich. Wir haben noch bis Ende der nächsten Woche Zeit. Und heute Abend ist die Schulaufführung von Natascha. Die willst du doch wohl nicht verpassen? Die Kleine hat sich heute früh schon beschwert, dass sie dich überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommt." Ja, Ina war schon vor dem gemeinsamen Frühstück in die Firma aufgebrochen. Das war auch nicht ohne Grund. Seit dem Geburtstag von Espie ging sie nicht nur Genia aus dem Weg, sondern auch ihrer kleinen Schwester. Sie korrigierte sich. Natascha war ja nur noch ihre Halbschwester. Schließlich hatte sie ja Inas Auftritt auf der Feier mitbekommen. Und auch wenn er ihr eigentlich nicht peinlich war, denn sie hatte ja nur ihrem Herzen Luft gemacht, hatte sie doch irgendwie Angst davor Natascha gegenüber zu treten. Wie sollte sie ihr denn erklären, dass sie gar nicht wirklich richtige Schwestern waren. Und wie sollte sie ihr erklären, dass Nataschas Mutter sich ihr nur angenommen hatte, weil ihre eigene sie nicht gewollt......nicht geliebt hatte? Das war etwas, das sie ja selbst nicht verstehen und noch viel weniger entschuldigen konnte. Auch wenn die Frau, die sie immer für ihre Mutter gehalten hatte, sie geliebt zu haben schien, war sich Ina selbst dieser Liebe nicht mehr wirklich sicher. Und wie würde Schischi reagieren? Würde sie sie überhaupt noch als ihre Schwester sehen? Oder würde sich ihr Verhältnis auch verändern? Würde Natascha sich auch von ihr abwenden?

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt