Kapitel 55

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„Und du bist wirklich nur Model geworden, weil du genug Geld verdienen wolltest, damit du mich suchen konntest?" Ina schaute Genia kopfschüttelnd an. Ja, seit sie begriffen hatte, dass Genia sie nicht anlog, führten sie ein ziemlich erwachsenes Gespräch. Ganz ohne Vorwürfe, nur mit sehr vielen Fragen und sehr vielen Antworten, die Ina ein immer besseres Gefühl gaben. Nein, ihre leibliche Mutter hatte sie nicht wirklich verstoßen. „Ja, damals schien es mir die einzige Möglichkeit genug zusammenzubekommen. Das war natürlich dumm! Wahrscheinlich hätte es genug andere Möglichkeiten gegeben. Aber ich konnte diesen Drachen damit auch gleichzeitig richtig ärgern und mich wenigstens ein bisschen dafür rächen, was sie uns beiden angetan hat." Ina kaute auf ihrer Lippe. „Aber dann bin ja eigentlich ich schuld, dass du auf der Straße gelandet bist." In ihr baute sich ein Schuldgefühl auf. „Das brauchst du gar nicht zu denken. Das habe ich mit meiner Dummheit schon ganz alleine hinbekommen. Ich war alt genug, um zu wissen, wann es Zeit war den Absprung zu bekommen." Genia schüttelte entschieden den Kopf. „Schließlich habe ich auch bis zu meiner Hochzeit mit Luca noch nach dir gesucht, auch wenn ich weniger Geld zur Verfügung hatte." „Das war ja bis vor ein paar Wochen!" Ina riss überrascht ihre Augen auf. „Ja", kam es nachdenklich von Genia. „Am Tag der Hochzeit habe ich beschlossen, es aufzugeben, damit ich meine neue Chance auf eine Familie nicht wieder in den Sand setze. Ich dachte, es wäre Zeit endlich loszulassen." Ein Grinsen schlich sich in ihr Gesicht. „Scheinbar hat das Schicksal wohl beschlossen das nicht zuzulassen und in die eigene Hand zu nehmen und uns zusammenzuführen." Die Augen von Genia hatten wieder einen feuchten Glanz bekommen. „Wenn ich mir vorstelle, dass du schon eine ganze Weile in meiner Nähe warst und ich das so überhaupt nicht gespürt habe. Ich war mir immer so sicher, dass ich dich sofort erkennen würde." Sie griff in ihre Handtasche und zog etwas heraus. Zum Vorschein kam ein kleiner rosa Strampler. „Das habe ich damals in Belgien für dich gehäkelt." Sie verzog ihr Gesicht. Es war ihr etwas peinlich. Schließlich hatte ihr ihre damalige Gastmutter erst das Häkeln beigebracht und das Ergebnis war nur irgendwie gelungen. „Ich weiß, er sieht nicht wirklich toll aus, aber ich habe ihn mit Liebe gemacht und immer bei mir gehabt, egal, wohin es mich geführt hat." Genia schluckte, denn sie musste an die Zeit auf der Straße denken. Selbst dort hatte sie sich nie von dem kleinen Babystrampler getrennt. Ins hatte ihr den Strampler aus der Hand genommen und strich mit ihren Fingern andächtig darüber. „Du hast Carmen darauf gestickt. Sollte ich so heißen?" Genia nickte. „Ja, in Belgien habe ich immer die Oper mit meinem Gastvater gehört und ich fand den Namen so schön." Ina traf die Erkenntnis schlagartig. „Deshalb liebst du auch die Oper Carmen immer noch so?" Genia nickte. „Ja, sie hat mich immer an meine kleine Tochter erinnert." „Und du hast sie immer mit mir im Bauch gehört?" Wieder kam ein Nicken. „Bestimmt mag ich sie deshalb auch so." So langsam ergab auch alles einen Sinn für Ina. Das war alles auch der Grund für die Stiftung für minderjährige Mütter, die Genia gegründet hatte. Sie wollte anderen Mädchen, die in die gleiche Situation wie sie geraten waren, helfen. Und auch der Name der Stiftung ergab jetzt einen Sinn für Ina. Deshalb hatte sie sie Carmen genannt. Damit ihre Tochter niemals vergessen war. In Inas Brust stieg ein warmes Gefühl auf. Genia hatte wirklich nie aufgehört sie zu lieben. Ina sprang vom Sofa auf und rannte zu dem alten Sekretär vor dem Fenster. Sie holte einen Umschlag heraus und rannte zum Sofa zurück, diesmal setzte sie sich aber nicht mehr an das andere Ende des Sofas, sondern ganz dicht neben Genia. „Die habe ich für uns beide besorgt. Und wegen ihnen habe ich auch den Adoptionsantrag gefunden." Ina zog die Karten für Carmen aus dem Umschlag und reichte sie Genia. „Das....das ist.....Schicksal! Da schließt sich der Kreis." Die Frau, die wirklich ihre leibliche Mutter war, schüttelte fassungslos den Kopf und dann machte sie etwas, womit Ina nicht gerechnet hatte. Sie zog sie einfach in eine feste Umarmung. Was Ina aber noch mehr überraschte, es fühlte sich richtig gut an. So gut wie schon lange nicht mehr, also außer bei Linus. Seine Umarmungen liebte sie. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie das letzte Mal eine elterliche Umarmung so genossen, als ihre Mutter noch gelebt hatte. Ja, die Umarmungen von ihr hatte sie auch geliebt. Und nach dem Tod.....da war sie Umarmungen von ihrem Vater lieber aus dem Weg gegangen. Es war als wäre irgendetwas in ihr eingefroren. Und momentan fühlte es sich gerade an, als würde es wieder auftauen, denn Ina legte ihre Arme auch um Genia. Als sie sich wieder von einander lösten, schaute Ina in zwei strahlende blaue Augen, in denen immer noch Tränen glitzerten. „Ich weiß, dass ich nie richtig deine Mutter sein kann. Dazu haben wir viel zu viele Jahre verloren und du hattest jemand anderen, der deine Mutter war und dich großgezogen hat. Aber ich hoffe, dass ich dir wenigstens so etwas wie eine große Schwester und beste Freundin werden kann." Ina musste schlucken. Ja, sie wollte auch ihre andere Mutter nicht vergessen. Das hätte sie nicht verdient, schließlich hatte sie sie auch geliebt. Es rührte Ina, dass Genia auch gar nicht versuchen wollte sie zu verdrängen. „Das wäre schön", brachte sie leise hervor. Und diesmal war es Ina, die die Umarmung initiierte. Es war eine lange, kuschelige Umarmung, die beiden gut zu tun schien. „Ich habe so viel in deinem Leben versäumt. Aber ab jetzt bin ich immer für dich da", flüsterte Genia Ina ins Ohr. Ja, sie hatten viel versäumt, aber es lag auch noch viel gemeinsame Zeit vor ihnen. Als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, kratze Genia sich verlegen im Nacken. In ihr war ein übermächtiger Wunsch aufgetaucht. Sie war sich aber nicht sicher, ob es nicht zu früh war ihn zu äußern. Schließlich lief es mit Ina gerade besser als sie es sich gewünscht.....nein, falsch, erhofft hatte. Gewünscht hatte sie sich genau das, was passiert war, nämlich, dass Ina ihr verzeihen würde und das es für sie einen Platz in Inas Leben gab. „Darf ich von dir ein paar Baby- und Kinderfotos sehen?", konnte sie sich dann doch nicht bremsen. „Klar!" Ina sprang sofort auf und rannte zu einer Kommode aus der sie ein Album herauszog. Genia war an ihr interessiert. Das fühlte sich total toll an. „Aber du wirst staunen. Ich sehe genau wie Espie aus. Wir haben beide die blonden Haare. Nur du schlägst aus der Reihe mit deinen dunklen."  Das war voll komisch. So aufgeregt wie gerade, als sie das Fotoalbum aufschlug, war Ina nicht einmal bei irgendwelchen Vertragsverhandlungen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihrer Mut....äh Genia zeigen wollte, wie viel Ähnlichkeit sie mit ihrer süßen kleinen Halbschwester hatte. „Also ehrlich gesagt, färbe ich sie mir nur dunkel. Aber vielleicht sollte ich das lassen, damit ich genauso wie meine beiden Mädels aussehe." Meine beiden Mädels. Dieser Satz hörte sich so gut in Inas Ohren an.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt