Reibung erzeugt Hitze

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„Erzähl mir keinen Scheiß und sag mir die Wahrheit!"
„Es fühlt sich an, als würde ich dich verlieren und das macht mir Angst. Ich will nicht, dass wir uns noch weiter voneinander entfernen. Du bist das Wichtigste in meinem Leben."
„Je länger wir es versuchen, desto mehr habe ich das Gefühl mit einem Fremden zusammen zu sein."
„Du machst genau das, was du mir geschworen hast, niemals zu tun. Du hast es mir versprochen."
„Wenn du jetzt aus dieser Tür raus gehst, ist es vorbei."

♾️

Desorientiert wachte ich aus dem Albtraum auf. Die Vergangenheit verfolgte mich, vermutlich ausgelöst durch den Streit gestern Abend. Ich blinzelte einige Male verwirrt, weil irgendwas nicht stimmte. War was mit meinen Augen? Da war was in meiner Sicht. Müde hob ich eine Hand und wollte mir damit über das Gesicht fahren, als ich den Grund entdeckte. Klebte da ernsthaft ein Post-it an meiner Stirn?
Ich zupfte den Zettel von meinem Gesicht und versuchte erst mal richtig wach zu werden. Der Traum oder besser die Erinnerung hing mir noch nach. Unser letzter großer Streit. Danach hatte sich alles verändert.
Kein Wunder, dass die Erinnerung ausgerechnet heute Nacht gewählt hatte, um mich zu verfolgen. Lange Zeit konnte ich nicht einmal die Augen schließen, ohne zurück in diese Situation katapultiert zu werden. Dass der Streit von gestern Abend etwas in mir getriggert hatte, war also keine Überraschung.
Was mich jetzt wieder zu diesem Post-it zurückbrachte.
Langsam hob ich die Hand mit dem Zettel, die ich selbstvergessen einfach aufs Bett hatte fallen lassen.
Ich lauf nicht weg. Bin nur schon ins Büro gefahren.
Okay. Danke für die Info. Das war neu.
Ich atmete tief durch und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Zumindest war er nicht zurück nach München gefahren, wie ich es fast schon vermutet hatte. Denn das war seine normale Abwehrreaktion. Dem Problem aus dem Weg gehen und es am besten auch noch totschweigen. Darin war Joko großer Weltmeister.
Gestern war er nicht mehr aus seinem Zimmer gekommen. Jedenfalls hatte ich nichts mitbekommen und ich hatte ihn wohlweislich in Ruhe gelassen. Weil auch ich überfordert war.
Aber es brachte ja alles nichts. Ich konnte den Tag nicht im Bett verbringen, denn es stand eine Aufzeichnung an. Also schwang ich die Beine aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Wie kam man am besten und schnellsten in Entertainerlaune? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit aufstehen und Krone richten. Nein, danke.
In der Wohnung war es natürlich still, als ich wieder aus dem Bad kam. Aus einem unbekannten Grund war es komisch, aber darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Ich musste mich fokussieren, sonst würde das heute überhaupt nichts mehr werden.
Eine halbe Stunde später, während der erste Kaffee versuchte meinen Körper auf Betriebstemperatur zu bringen, machte ich mich auf den Weg in die Firma. Unterwegs musste ich mich davon abbringen, beim Bäcker zu halten und mir was Süßes zu besorgen. Der Drang war plötzlich groß. Kennen Sie das? Ich brauchte Nervennahrung. Zucker. Irgendwas Süßes. Hilfe!
Ich biss auf meinem Daumennagel herum, als ich an einer Ampel stehen blieb. Das Gefühl, dass mir alles durch die Finger rang, drängte sich plötzlich in den Vordergrund. Was war nur aus meinem Leben geworden? Ich stolperte gefühlt von einer Katastrophe in die Nächste und bekam nicht mal eine kurze Verschnaufpause. Wann hatte es angefangen, so furchtbar schief zu laufen?
Ich musste einen Aufschrei unterdrücken, als mein Handy auf dem Beifahrersitz sich plötzlich meldete. Kurzer Blick zur Ampel. Noch rot. Was sollte schon passieren? Ein schneller Blick war noch drin. No judgement please!
Über die Mittelkonsole hinweg griff ich zum Handy und tippte mit dem Daumen auf den Bildschirm, um ihn zu aktivieren.
Eine Nachricht von Jan.
Ich komme am Freitag nach Berlin. Können wir uns sehen?
Bevor ich darüber nachdenken oder irgendwie reagieren konnte, ließ ich das Handy erschrocken zurück auf den Sitz fallen.
„Wichser!", knurrte ich in den Rückspiegel, als der Typ hinter mir seine Hupe viel zu ausführlich benutzte.
Der Berliner Charme. Ein Träumchen. Was hielt mich eigentlich noch in dieser Stadt?
Mit quietschenden Reifen ließ ich den Typen in seinem überteuerten Elektroauto in einer Staubwolke hinter mir zurück und ignorierte das Handy bis ich in der Firma ankam.
Das übliche Montagschaos empfing mich dort, obwohl der Wochentag eigentlich keine Rolle spielte. In dieser Firma herrschte immer Chaos. Wenn es eine Konstanze in meinem Leben gab, dann diese. Fast schon ein tröstlicher Gedanke.
Ich schlenderte durch die Flure zu meinem Büro. Viel später, als es sonst üblich für mich an einem Montag war. Hier und da schickte ich einen Morgengruß in den Raum, während ich mein Handy mit Jans Nachricht viel zu deutlich in meiner Tasche spürte.
Wieso kam er wieder nach Berlin? Und konnte ich das als gutes oder schlechtes Zeichen sehen? Hatte er sich mit seiner Frau ausgesprochen? Eine Entscheidung getroffen?
Seufzend schmiss ich meinen Rucksack auf das Sofa in meinem Büro. Es war doch schon kompliziert genug, dass Joko vor meiner Nase herumtanzte. Das Jan jetzt schon wieder nach Berlin kam, schüttete nur mehr Spiritus ins Feuer und war definitiv das Gegenteil von Abstand halten. Ich wurde noch verrückt, wenn das so weiterging.
Mein nächster Stopp führte mich zur Kaffeemaschine. Wenn ich diesen Tag überstehen wollte, brauchte ich Koffein. Während ich in der Küche an der Arbeitsplatte lehnte und darauf wartete, dass meine HalliGalli Tasse sich mit dem braunen Gold füllte, drehte ich nachdenklich mein Handy in der Hand. Dass ich unbewusst meine Unterlippe malträtierte, bekam ich kaum mit.
Vermisst du mich schon?,  schickte ich ihm, dumm wie ich war, die gleiche Frage, die er mir vor ein paar Tagen geschickt hatte.
Jetzt spielte ich mit dem Feuer. Oh ja, ich konnte die Hitze schon an den Fingerspitzen spüren. Das war gar nicht gut.
„Guten Morgen!"
Während ich das Handy noch mit gerunzelter Stirn anstarrte, betrat eine weitere Person den Küchenbereich. Ich blickte auf.
„Morgen!"
Schmitti öffnete den Hängeschrank neben mir und nahm sich eine Tasse heraus. Anschließend lehnte er sich mit der Hüfte ebenfalls an die Arbeitsplatte. Die Maschine hörte auf zu gluckern und spuckte den letzten Rest Kaffee in meine Tasse. Ich griff nach ihr, fügte etwas Milch hinzu und nippte an dem heißen Getränk. Dabei spürte ich ununterbrochen Schmitti's Blick auf mir.
„Wenn du etwas sagen willst, spuck es aus", sprach ich das Offensichtliche aus.
„Wie war es in Hamburg?"
„Gut."
„Hast du dich auch gut erholt?"
„Absolut!"
„Wie geht's Olli und Jan?"
Was sollte die Fragerei? Worauf wollte er hinaus? Verstanden Sie, was er wollte?
„Red nicht um den heißen Brei herum! Spuck einfach aus, was du willst!"
Doch Schmitti schien nicht so bald die Absicht zu haben, mich an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. In aller Ruhe stellte er seine Tasse unter die Maschine, drückte ein paar Knöpfe und beobachtete, wie die Flüssigkeit die Tasse füllte. Er schien alle Zeit der Welt zu haben. Schön für ihn. Ich hatte jedenfalls keine Lust auf seine Spielchen am frühen Morgen. Und auf Ratespielchen schon mal gar nicht.
„Wie auch immer...", murmelte ich und wollte zurück in mein Büro gehen.
„Falls es dich interessiert: Joko hat uns alle ein klein wenig verrückt gemacht."
Okay. Damit hatte er mich. Das ließ mich dann doch wieder innehalten.
„Ist das so?"
„Wollte von mir wissen, wie lange du weg bleibst. Als wäre ich dein Sekretär. Hab ihm nur gesagt, ein paar Tage wird er schon ohne dich überstehen. Als Jans Name fiel, war von Abwarten allerdings keine Rede mehr. Ich versteh' es nicht. Verrat mir doch mal, was das Problem zwischen den beiden ist! Was ist das mit den beiden?"
Wie aufs Stichwort spürte ich das Vibrieren des Handys in meiner Hosentasche. Hitze machte sich an der Stelle breit.
Ich musste mich räuspern, bevor ich Schmitti antworten konnte. Einen schnellen Schluck vom noch heißeren Kaffee. Scheiße. Das bereute ich bereits im nächsten Moment, als ich mir fast die Speiseröhre verbrannte.
„Was weiß ich denn? Wieso fragst du mich? Solltest du die Frage nicht lieber Joko stellen?", brachte ich leicht hustend heraus.
Ungerührt nahm Schmitti seinen Kaffee, pustete in die Tasse und lehnte sich wieder gemütlich an die Küchenzeile.
„Der hat nur irgendwas vor sich her gegrummelt und ist dann doch in seinem Büro verschwunden."
„Na, da hast du doch deine Antwort."
Und mehr bekam er auch nicht aus mir raus. Ohne auf eine weitere neugierige Frage zu warten, ging ich zügig in mein Büro.
Schauen Sie mich nicht so an! Schmitti musste nun wirklich nicht alles wissen und erst recht nicht alles aus meinem Liebesleben. Die Firma war schon viel zu eng in dieses ganze Drama verstrickt. Ich brauchte nicht noch mehr Getuschel hinter unserem Rücken.
Mehr als Verwunderung auf Jokos seltsame Eifersuchtsattacken in Bezug auf Jan hatte ich bei Schmitti allerdings nie gesehen. Denn ausnahmslos jeder hatte sich über Jokos Verhalten gewundert. Schon damals bei NeoParadise und erst recht bei MTV Home. Und erinnern Sie mich nicht an die furchtbar eisige Stimmung nach der Duell um die Geld Folge mit Jan. Die Aftershowparty war vermutlich die schlimmste gewesen, die wir jemals gegeben hatten. Genauso wie die Heimfahrt danach. Selten hatte ich Joko so angepisst erlebt. Erst recht nicht nach seinem ersten Sieg bei diesem Format, was möglicherweise an meiner mangelnden Konzentrationsfähigkeit gelegen hatte. Hey! Ich sagte möglicherweise. Bleiben Sie mal auf dem Teppich!
Wie auch immer. An diesem Morgen stand mir auf jeden Fall nicht der Sinn danach Schmitti irgendwas zu erklären. Als ob der überhaupt 'ne Erklärung verdient hätte...
Der Computer fuhr mit einem leisen Surren hoch, während ich mich zurücklehnte und nun ebenfalls in die Tasse pustete. Da vibrierte es erneut in meiner Hosentasche. Ich zog das Handy heraus und stellte dabei sicherheitshalber die Tasse beiseite.
Wenn du die Antwort darauf nicht weißt, hast du in den letzten Tagen nicht besonders gut aufgepasst.
Der Kuss drängt sich zurück in den Vordergrund meiner Gedanken. Vereinzelte Bildfetzen von großen Händen und blauen Augen.
Shit! War die Klimaanlage hier drin kaputt? Hitze stieg meinen Hals hinauf und trocknete meine Kehle aus. Ich musste mich räuspern.
Seine folgende Nachricht zog mich zum Glück zurück aus diesem Strudel.
Ist dein Anhang noch in Berlin oder treffen wir uns bei mir im Hotel?
Würde Joko Freitag noch hier in Berlin sein? Ich wusste es offen gestanden nicht. Hatten wir nicht drüber gesprochen und außerdem war durch die Ereignisse der letzten Tage mein innerer Terminkalender wie ausgelöscht. Lachen Sie nicht! Ich hab' wirklich so etwas Ähnliches wie einen inneren Terminkalender. Funktioniert zugegebenermaßen nicht immer fehlerfrei. Daher sollte ich vielleicht mal wieder einen Blick hineinwerfen, bevor ich Probleme mit Ansa bekam und einen wirklich wichtigen Termin vergaß.
Keine Ahnung. Wer sagt überhaupt, dass ich Freitag Zeit habe?
Da schien jemand auf meine Antwort gewartet zu haben.
Du kannst deinem ältesten Freund doch nichts ausschlagen.
Du bist nicht mein ältester Freund.
Dein bester?
Ich weiß ja nicht.
Der heißeste?
Und da war wieder dieses heißes Kribbeln, das meinen Körper durchfuhr. Fuck. Das war wirklich nicht gut. Die Reaktion sollte ich definitiv bis Freitag in den Griff kriegen.
Darüber lässt sich bestimmt streiten.
Ich bin aber derjenige, der dich am schnellsten kommen lässt.
Fuck. Jetzt hatte ich definitiv Bilder im Kopf, die fürs Büro absolut ungeeignet waren. Was war nur los mit mir?
„Klaas?"
Ein Glück hatte ich die Tasse beiseitegestellt, denn sonst hätte ich nun ein Problem mit heißem Kaffee im Gesicht. Den lauten Schrei, der mir allerdings entfuhr, konnte ich nicht unterdrücken.
Jakob stand mitten im Büro und hielt mir unbekannte Zettel in der Hand, die er sich nun ebenfalls erschrocken an die Brust drückte. Mein Herz raste.
„Entschuldige, ich hatte geklopft, aber du hast nicht reagiert."
Ein- und ausatmen. Fuck. Ich war für sowas viel zu schreckhaft. Neue Regel fürs Büro: nicht durch Nachrichten von Jan ablenken lassen.
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und konnte nur beten, dass man mir meine Gedanken nicht ansehen konnte. Bevor ich meine Stimme wiederfand, musste ich mich allerdings räuspern.
„Schon gut. Ich war in Gedanken." Wieder vibrierte mein Handy, aber dieses Mal beachtete ich es nicht.
Einen Moment sahen wir uns unsicher an. Mit all den unausgesprochenen Dingen zwischen uns. Wir wussten scheinbar beide nicht, wie wir damit umgehen sollten und das war eine komplett neue Situation für mich. Vor einigen Tagen war ich mir meiner Wut noch zu einhundert Prozent sicher gewesen. Jetzt fühlte ich mich selbst wie jemand, der fremdgegangen war. Eigenartig, oder?
„Gibt's irgendwas, was wir nicht gleich im Studio klären können?", fragte ich und lenkte mich mit meinem Kaffee ab.
Meine Frage schien auch Jakob aus seiner Starre zu reißen.
„Es geht um das Interview mit Jenke. Katha hat da vorhin noch eine Mail bekommen mit..."
Während sich mein Herzschlag so langsam beruhigte und wieder zu seiner normalen Geschwindigkeit zurückfand, redete Jakob über andere Fragen und neue Details und ich blendete es einfach aus. Denn in meinem Kopf kamen andere Fragen auf.
Schon gestern Abend hatte Joko mir das Gefühl gegeben, dass da noch mehr war. Dass er mir irgendwas verschwieg, was ich eigentlich wissen sollte. Schon bei der Konfrontation in München. Mir wurde etwas vorenthalten und ich wusste, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, an die Antwort zu kommen.
Nachdenklich sah ich Jakob an, während ich die Tasse abstellte.
„Warum?", unterbrach ich ihn einfach. Ruhig. Fast schon leise.
Er hielt sofort inne. Mit offenem Mund und einer Hand in der Luft. Er fragte nicht nach, denn er wusste, was ich meinte.
Wieder war es für einen Moment still.
Ich wippte leicht mit dem Stuhl, während ich die Armlehnen umklammert hielt und Jakob musterte. Auf irgendeine Reaktion wartete. Jetzt oder nie. Irgendwas in mir brauchte diese Antwort jetzt.
Nach einigen Sekunden der absoluten Stille schien Jakob sich gesammelt zu haben. Er ließ die Hand mit den Blättern sinken und fuhr sich mit der anderen Hand über die Brust. Räusperte sich und befeuchtete seine Lippen. Ich hatte ihn kalt erwischt. Gut so. Dem Gegner keine Zeit geben nachzudenken. Denn in diesem Moment war Jakob mein Gegner. Ob ich es wollte oder nicht.
„Klaas, ich...", fing er an herum zu stammeln.
„Du wolltest die ganze Zeit reden. Jetzt rede. Jokos Version habe ich gehört. Jetzt will ich deine."
Ich sah ihn hart schlucken. Eiskalt erwischt.
Er machte einige Schritte auf den Stuhl vor meinem Tisch zu und ließ sich darauf sinken. Die Blätter landeten unbeachtet auf der glatten Oberfläche. Dann breitete sich der ganze Albtraum vor mir aus.
„Ich will, dass du weißt, dass ich nichts davon geplant habe. Es war niemals meine Absicht zwischen euch zu geraten."
Kein Kommentar von meiner Seite. Ich hörte einfach nur zu. Als er keine Reaktion von mir bekam, redete er weiter.
„Als ich damals zu euch gestoßen bin, war die Bindung zwischen euch schon nicht mehr zu verbergen. Jeder hat es gesehen, deswegen habe ich niemals an eine solche Möglichkeit gedacht. Es nie in Betracht gezogen. Ich war zu der Zeit ja auch noch mit Vicky zusammen, aber du kennst doch Joko. Er hat mich sofort in eure Gruppe aufgenommen und wie einen alten Freund behandelt. Ich habe ihn zu anderen Shows begleitet. Wir sind zusammen auf Events gewesen. Ich meine, er hat mich mit zur Formel Eins und zum Fußball genommen und mich prominenten Menschen vorgestellt."
Heilige Scheiße! Ich umklammerte die Lehne des Stuhls fester.
„Das war alles so unglaublich. Wie im Traum. Ich hab mit den Bayern den Champions League Sieg gefeiert. Ich hatte den Pokal in der Hand. Du kannst das vermutlich nicht nachvollziehen, aber das werde ich mein Leben lang nicht vergessen und das alles dank Joko. Wir wurden so gute Freunde mit den gleichen Interessen und ich war einfach glücklich, wenn ich in seiner Nähe war."
Wenn Jakob einmal anfing zu reden, hielt ihn scheinbar so schnell nichts auf. Hatte ich schon heilige Scheiße gesagt? Was war mir in den letzten Jahren bitte alles entgangen? Ich wusste, dass Jakob eine Tochter hatte und sich vor knapp drei Jahren von seiner Frau Vicky hatte scheiden lassen. Aber so richtig kannte ich ihn scheinbar nicht.
„Dann fingen wir an zusammen in den Urlaub zu fahren und es war jedes Mal ein Highlight. Das war noch zu HalliGalli Zeiten bis es später zur Tradition wurde, dass wir mindestens zweimal im Jahr zusammen verreisten. Aber das weißt du ja."
Natürlich wusste ich es, denn schließlich war ich zu der Zeit mit dem Trottel noch zusammen und selbst das ein oder andere Mal mit von der Partie gewesen.  Allerdings musste ich zu der Zeit ziemlich blind gewesen sein, schließlich stolperte ich nun absolut ahnungslos in diesen Albtraum.
„Und letzten Juli ist es dann mehr geworden. Der Wein floss in Strömen, wir waren gut drauf und Joko wurde anhänglicher. Ich meine, du weißt ja, wie er ist, wenn er getrunken hat..."
Heilige Scheiße!!
„Bitte verschone mich mit solchen Sachen! Details brauch' ich nun wirklich nicht."
„Ja, klar. Versteh' ich. Tschuldige." Er winkte ab. „Was ich eigentlich sagen will, es ist einfach passiert. Nicht bis zum Äußersten, aber wir haben gefummelt und..." Er unterbrach sich, als er meine hochgezogene Augenbraue sah. „Richtig. Keine Details. Es war also nie was richtig Festes. Jedenfalls hatten wir nie Sex im eigentlichen Sinne. Also, du weißt schon..."
Verstecke Kamera. Das musste es sein. Das hier war alles eine von Jokos weirden Fernsehmazen für was auch immer. Denn nie im Leben konnte es real sein. Es war ein Albtraum. Ich starrte an die Decke.
„Keine richtige Beziehung, weil Joko... das hat er von Anfang an klar gemacht, dass es nicht mehr sein kann. Eher was zum Stressabbau ohne Verpflichtungen. Womit ich auch einverstanden war, weil warum dazu nein sagen, aber..."
Aber dieses seltsame Arrangement schien jetzt nicht mehr in seinem Interesse zu liegen. Das hörte ich ihm an. Er wollte mehr. Von meinem Joko, aber war er das überhaupt noch? Spielten wir nicht beide derzeit ein gefährliches Spiel? Ich blickte zu meinem Handy.
„Joko hat mir vor ein paar Wochen klar gemacht, dass es zwischen uns nicht weitergehen kann. Weil er noch in dich verliebt ist."
Jetzt blickte ich Jakob an. Dass Joko ihm das so deutlich gesagt hatte, überraschte mich. Oder auch nicht? Eigentlich war er nie zurückhaltend mit seinen Absichten und Gefühlen. Frei heraus. Wie es ihm gerade passte. Wen er dabei auf dem Weg opferte, war augenscheinlich egal. Damals war ich es gewesen. Heute war es Jakob.
Dann war es wieder still. Jakob hatte gesagt, was er sagen wollte und ich musste damit klarkommen.
„Ich habe keine Ahnung, ob es einen Weg für uns zurückgibt", sagte ich leise. „Ich weiß nicht, ob ich mit dem heutigen Wissen wieder eine Beziehung mit ihm eingehen kann. Es war keine einmalige Sache. Ob es jetzt Sex war oder nicht. Was ich mir bei aller Liebe wirklich nicht vorstellen will. Ich kriege es nicht in meinen Kopf."
Wenigstens hatte er den Anstand beschämt dreinzublicken.
„Wie auch immer. Ich kann mit euch arbeiten, aber alles andere muss ich erst mal verarbeiten."
„Versteh' ich. Du solltest nur wissen, dass es mir leidtut."
Ich nickte, denn mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Er erhob sich aus dem Stuhl und nahm die Unterlagen vom Tisch.
„Dann besprechen wir das wohl besser später im Studio", sagte er, hielt sie demonstrativ hoch und verließ im nächsten Moment den Raum.
Wohin mit meinen Gedanken. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und verzog das Gesicht. Kalt. Na klar. Aber was soll's. Ich kippte den Rest auf Ex runter und schüttelte mich kurz. Koffein war gut. Musste mich heute über den Tag, durch die Aufzeichnung retten, denn ich wollte nicht schon wieder zum Alkohol greifen. Also kurzer Uhrzeit Check.
Was wollte ich eigentlich noch hier im Büro? Ich konnte mich genauso gut schon auf den Weg zum Studio machen und meinen Gefühlen ein Ventil geben. Bevor ich hier nur grübelnd herum saß. Also fuhr ich den Computer wieder runter, ignorierte einfach mal mein Handy und schnappte mir die Sportklamotten aus dem Rucksack. Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen, Hose aus, Sporthose an und gerade als ich mir den Pullover über den Kopf zog, ging die Tür ein weiteres Mal auf. Person Nr. 3 in diesem ganzen Drama betrat mein Büro.
„Kannst du nicht anklopfen? Ich ziehe mich gerade um", warf ich Joko an den Kopf, der ungerührt die Tür schloss und mich musterte.
„Das sehe ich. Genauso wie der Rest der Mitarbeiter. Dir ist schon bewusst, dass du eine Glastür hast?"
„Na und? Was hab' ich schon zu verstecken?"
„Warum sollte ich dann anklopfen?"
Verstehen Sie, was ich meinte? Er machte mich wahnsinnig.
Diesen Moment nutzte mein Handy um sich erneut penetrant in den Vordergrund zu drängen. Ein Anruf. Ich ging rüber zum Tisch und schielte drauf. Da konnte ich gerade auf gar keinen Fall dran gehen. Wir mussten noch über die Fest&Flauschig Sache sprechen, aber später. Daher drehte ich es einfach um und somit weg aus meinem Blickfeld. Hinderte es so allerdings nicht daran fröhlich vor sich her zu vibrieren.
„Musst du da dran gehen?"
„Ich ruf' einfach später zurück. Wolltest du was?"
Schnell griff ich zu meinem Shirt und zog es mir über den Kopf. Als Nächstes schnürte ich mir die Sportschuhe zu. Alles, damit ich ihn nicht ansehen musste.
„Hast du meine Nachricht bekommen?"
„Wie hätte ich sie übersehen sollen? Du hast sie mir immerhin an die Stirn geklebt, während ich noch geschlafen habe. Gute Taktik."
„Danke!" Er klang äußerst zufrieden mit sich.
Auch diese Situation hier fühlte sich seltsam an. Nach unserem Streit gestern. Hatte ich heute denn nur seltsame Begegnungen? Ich musste raus und den Kopf frei kriegen, aber dann war mein Mund mal wieder schneller als mein Kopf.
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du nicht mit Jakob geschlafen hast?"
Wütend auf mich selbst, weil die Worte ohne nachzudenken aus meinem Mund gekommen waren, einfach, weil sie raus wollten, zog ich die Schnürsenkel besonders fest zu, bevor ich aufstand und ihn ansah. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Jedenfalls sah er mich überrascht an.
„Du hast mit Jakob gesprochen."
„Habe ich. Vor nicht mal fünf Minuten und irgendwie wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Das muss wohl das längste Vorspiel der Welt für euch gewesen sein."
Da war sie wieder. Meine Wut. Sehr gut. Damit konnte ich arbeiten.
Joko dagegen entfuhr nur ein Seufzen.
„Was spielt es für eine Rolle, ob wir miteinander geschlafen haben? Gestern Abend hast du doch auch darauf beharrt, dass du nicht mit Jan geschlafen hast."
„Wir reden jetzt aber nicht über Jan. Es geht hier um dich und Jakob. Ich hab'... Das hättest du mir sagen sollen."
Ich musste mich beschäftigen, sonst würde das nächste Unglück passieren. Also drehte ich mich um, kramte die Bauchtasche aus dem Rucksack und steckte die notwendigsten Sachen hinein. Auch mein Handy, welches endlich Ruhe gab. Ich weigerte mich allerdings weiterhin auf den Bildschirm zu schauen.
Joko antwortete nicht direkt, aber ich spürte, wie er näher kam. Nach meiner Hand griff. Vorsichtig. Mir die Möglichkeit gab, auszuweichen, aber das tat ich nicht. Jeweils zwei unserer Finger verschränkten sich miteinander. Und schon wieder spielte ich mit dem Feuer.
„Was macht es für einen Unterschied?", stellte er die Frage erneut und ich hatte keine Antwort darauf. Nicht jetzt. Ich musste darüber nachdenken. Nicht schon wieder aus dem Bauch heraus handeln.
„Das muss es. Sonst weiß ich nicht, wie es weitergehen soll."
Sehen Sie mich nicht so an! Ehrlichkeit. Das hatte er verdient, denn mehr konnte ich ihm gerade nicht geben.
Einen Augenblick klammerte ich mich noch an ihm fest. Der Gedanke loszulassen war gerade viel zu schmerzhaft, doch es musste sein. Vielleicht war dieser Schnitt notwendig. Für uns beide. Also trat ich einen Schritt zur Seite und wandte mich ab.
An der Tür blieb ich noch einmal stehen und blickte über meine Schulter. Mit den Händen in den Hosentaschen stand er da und erwiderte meinen Blick. Was war nur los mit uns?
„Bist du am Freitag noch in Berlin?"
„Warum?" Sein Blick wurde argwöhnisch.
„Beantworte doch einfach die Frage!" Ich verdrehte die Augen.
„Ich wollte morgen zurück nach München fahren."
„Okay, gut" sagte ich nur und ging raus.

Postemotionale WirklichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt