Anna wickelte sich eine ihrer hell braun-blonden Locken um den linken Zeigefinger, kaute auf ihrem fast geschmacklosen Kaugummi herum und guckte auf das Sudoku, das auf ihren zum Schneidersitz gefalteten Beinen lag. Ihre Cousine Julie rechts neben ihr hatte die Arme um die angewinkelten Beine gelegt und lehnte mit ihrer Jacke als Polsterung schlafend am Fenster. Ihre dunkleren, stufig geschnittenen Haare hatte sie auf dem Kopf zu einem unordentlichen Dutt zusammen gebunden, sodass ihr strubbeliger Pony und ein paar Strähnen niedlich in ihr Gesicht fielen.
Anna, die gelangweilt von ihrem Sudoku aufguckte, merkte, dass der Zug gerade den nächsten Bahnhof anfuhr. Noch eine Stunde bis Berlin. Das Paar mit den dicken Wanderrucksäcken und Regenjacken, das ihnen gegenüber gesessen hatte, machte sich zum Gehen fertig. Anna nickte ihnen freundlich zu, als sie sich am kleinen Tisch vorbei in den Gang quetschten und der Schlange der Aussteigenden anschlossen. Nette Leute, aber hoffentlich kommen jetzt auch mal ein paar hübsche Jungs, dachte Anna, während ein Coldplay-Lied durch ihre Ohrstöpsel wummerte. Die Plätze blieben die 20 Minuten bis zur nächsten Station leer und Anna war in eine Zeitschrift vertieft, als ein Mensch bei den Plätzen stehen blieb.
„Ist da besetzt?", fragte tatsächlich eine männliche Stimme. Anna guckte auf. Jackpot, der Junge hatte ein hübsches Gesicht mit wuscheligen dunkelblonden Haaren und sah im Ganzen eher sportlich aus. Sie grinste ihn an und schüttelte den Kopf.
„Danke", sagte er und lächelte, während sein Blick zum abgewandten Körper Julies wanderte.
Annas Blick ruhte verstohlen auf ihm, während er seinen schwarzen Rucksack auf dem Tisch abstellte, sich auf dem Fensterplatz gegenüber Julie schob und den Rucksack mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Platz neben sich stellte. Sie guckte schnell auf ihre Zeitung, als er nochmal kurz guckte und sah dann wieder zu ihm, als er sich dem Fenster zuwandte. Im Sonnenlicht flog die Brandenburger Landschaft sehr idyllisch vorüber. Sein Blick huschte zunächst kurz über die Felder, glitt dann aber zu Julie und bewegte sich für einige Momente nicht von ihrem Gesicht fort. Ach, sie is' wohl mehr dein Typ, dachte Anna lächelnd. Sein Blick huschte zum Fenster, glitt aber sofort wieder zu Julie. Er wollte sich wohl nochmal vergewissern, ob sie wirklich so aussah.
Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, während er ihr ganzes Gesicht aufnahm.
Tststs, du starrst. Das macht man nicht, dachte Anna. Am liebsten hätte sie Julie ihren Ellenbogen in die Seite gepiekt, um sie aufzuwecken, aber sie wollte den Jungen ruhig noch ein bisschen ungeniert starren lassen. Seine Augen waren blau und strahlten regelrecht, wenn die Sonne kurz auf die fiel. Er regte sich und Anna guckte schnell auf ihre Zeitschrift, als er verstohlen guckte, ob sie sein Starren bemerkt hatte, und sich dann seinem Rucksack zuwandte. Er zog ein Sandwich vom Bäcker und ein Buch heraus.
Wer liest denn in dem Alter bitte noch Bücher? Abgesehen von Julie vielleicht. Passt ja, dachte Anna belustigt und fing wieder an, sich eine ihrer Locken um den Zeigefinger zu wickeln, wobei sie immer wieder guckte, ob sie den Titel des Buches erkennen könnte - für Julie -, während er das Buch aufschlug, anfing zu lesen und in sein Sandwich biss. Ihr Cousinchen sollte ja wissen, woran ihr frisch gebackener Verehrer interessiert war, sie würde es wissen wollen. Der Blick des Jungen bewegte sich konstant zwischen dem Buch und seiner hübschen gegenüber sitzenden Mitfahrerin hin und her. Anna fiel auf, dass er nach einigen Minuten immer noch nicht umgeblättert hatte und nun seine Augenbrauen erneut zusammen zog, um sich endlich auf den Text zu konzentrieren. Da bewegte Julie den Arm und dahin war seine Konzentration.
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Im Zug
Novela JuvenilEine romantische Kurzgeschichte von einer Zugfahrt nach Berlin.