Per Aspera ad Astra I

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V schob sich an den Rand des Daches. Weit genug nach vorn, dass sie den Platz, der sich vor ihr erstreckte, einsehen konnte. Nicht so weit jedoch, dass sich der Boden drehen würde, wenn sie nach unten blickte.

Die Zwillingsmonde tauchten das Dörfchen in silbernes Licht, machten jedoch auch V sehr viel sichtbarer, als ihr lieb war.

»Wir sind in dieser Nacht hier zusammengekommen«, hallte eine tiefe Stimme über den Platz, »um diese arme Seele von ihren Sünden zu befreien.«

Ein Mann in schwarzem Gewand hatte gesprochen und machte nun eine ausladende Handbewegung zu einer jungen Frau, die von weiteren Menschen in Kutten auf den Platz geführt wurde. Gekleidet war sie in Weiß, aber selbst auf die Entfernung sah V, dass die nackten Füße von dunklen Flecken übersät waren.

Tränen benetzten ihre bleichen Wangen, doch sie wehrte sich nicht gegen den Griff. Obwohl sie wissen musste, was die Kultisten mit ihr planten, ließ sie sich von ihnen leiten.

V war weder im Bilde, was vorgefallen war, noch kannte sie die Frau. Es geschah aber nicht selten, dass sie genau eine solche Szene beobachtete, wenn sie einmal in dieses Dörfchen kam. Und sie begab sich öfter, als sie zugeben wollte, hierher.

Ein Licht entzündete sich in Vs Augenwinkel. Eine Fackel, die nun zu einem Holzstapel getragen wurde. Manchmal gingen die Frauen und Männer, die dort hineingeführt wurden, unbeschadet wieder hinaus. Und manchmal nicht.

In diesem Dorf wohnten Anhänger des Dunklen Königs. Er selbst hatte sich zwar nun schon viele Jahre lang im Verborgenen gehalten, aber es gab immer noch Leute, die an das glaubten, was er damals verkörpert hatte.

Die Zerstörung der Welt würde einem höheren Zweck dienen und aus der Asche neue Pflanzen sprießen. Sie sagten, dass sie nur im Feuer Reinheit fänden und dass Dunkelheit allein das Licht wäre.

Fanatiker. Allesamt.

Wie überhaupt jemand glauben könnte, dass der Dunkle König dieser Welt etwas Gutes gebracht hätte, war V ein Rätsel. Er hatte als erbitterter Herrscher jeden unter der eisernen Sohle des Krieges zermahlt, wenn er sich gegen ihn stellte – und manchmal auch diejenigen an seiner Seite, seine Freunde und Vertrauten.

Ein Tyrann. Gewalttätig und ruchlos.

Sie schüttelte den Kopf. Es wurde Zeit, dass sie von hier verschwand. Sie wollte sich nicht noch einmal anschauen, wie jemand bei lebendigem Leibe verbrannt wurde.

»Meine Liebe, nur Diebe und Mörder treiben sich so spät in der Nacht umher.«

Die Stimme neben ihr ließ sie zusammenfahren. Sie wirbelte herum, besann sich aber, nicht sofort aufzuspringen, da sie nicht von den Menschen unten gesehen werden wollte.

Ein Mann hockte neben ihr auf dem Dach. Gekleidet in Schwarz, aber keine Kutte, wie die Kultisten unten trugen, sondern eine dunkle Lederrüstung und darüber einen Umhang, dessen Kapuze er ins Gesicht gezogen hatte. Der Stoff war durchlöchert, vor allem am Saum, und an dem Leder zeigten sich Kratzer.

V schnaubte und wandte sich ab. »Ich komme allein zurecht, Ejahl«, murrte sie. Wie lange er wohl schon neben ihr gesessen hatte, ohne dass sie ihn bemerkt hatte?

»Wenn es in den letzten Jahren normal geworden ist, dass sich Kinder in ihrer Freizeit Menschenverbrennungen ansehen, dann hat sich seit meiner Jugend so einiges geändert.«

»Ich bin kein Kind mehr«, murrte sie nur leise, obwohl sie wusste, dass sie mit jemandem wie ihm nicht darüber diskutieren musste. Er würde ohnehin nur glauben, was er wollte.

Da sie seine Frage nicht beantwortete, fuhr Ejahl fort: »Komm, ich bringe dich nach Hause.« Er erhob sich und machte sich offenbar keine Gedanken, dass die Kultisten ihn sehen könnten. Manchmal war er erstaunlich auffällig dafür, dass er eigentlich mit den Schatten verschmelzen sollte.

The Tale of Greed and VirtueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt