Kapitel 36 - Jakob

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„Von deinen Stimmungsschwankungen bekommt man regelrecht ein Schleudertrauma." Ich lache über Joes Kommentar und beginne mein Werkzeug zu säubern, was ich alle paar Wochen tue. Es ist eine mühselige, aber notwendige Arbeit, um deren Lebenszeit zu verlängern. Ich tue es nicht gerne, aber an einem späten Freitagnachmittag mit Vorfreude auf den kommenden Abend und einem Wochenende mit Viki würde ich sogar die ganze Werkstatt putzen wollen.

Seitdem Viki bei mir gewesen war und wir über den Galaabend gesprochen haben, hat sie jede Nacht bei mir verbracht. Wer hätte gedacht, dass die Woche so eine Wendung nehmen würde?

„Willst du mir beim Arbeiten zusehen oder was willst du hier?", frage ich meinen Bruder, weil er sich nicht von der Stelle bewegt. „Wir warten auf Leah.", entgegnet er und ich ziehe die Augenbrauen zusammen. „Warum warten wir auf Leah? Steht heute noch ein Meeting an?" Joe hat nichts erwähnt. Zumindest erinnere ich mich nicht daran. Das hat aber nichts zu bedeuten, denn die letzten Tage höre ich kaum jemandem zu, wenn er mit mir redet. Mit meinem Kopf bin ich ganz woanders: bei Viki. Ich sehe sie quasi den ganzen Tag vor meinen Augen und gegen sie kommt momentan niemand an. Als ich mich vor zwei Stunden selbst dabei ertappt habe, lächelnd in die Luft zu starren, während ich doch eigentlich den Anhänger für Mum fertig machen soll, habe ich mich ernsthaft gefragt, ob man nach einem Menschen süchtig werden kann. Mein klopfendes Herz und die Sehnsucht nach Viki unterstreichen diese These.

„Hey, Jake, ich rede mit dir!" Mein Bruder wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum und holt mich wieder zurück in die Gegenwart. „Das ist doch nicht mehr normal.", murmelt Joe laut genug, so dass ich es noch hören kann. Vermutlich hat er recht.

„Dein Bruder ist verliebt. So oft haben wir das noch nicht erlebt.", meint Leah und kuschelt sich an Joes Seite. Ich habe nicht mitbekommen, wie sie den Raum betreten hat.

„Ja, dass wir das noch mal miterleben dürfen." Joe klingt genervt, aber der Blick, den er mir zuwirft, hat nur Liebe für mich übrig. Ich muss wohl wirklich neben mir stehen, denn ich grinse die beiden einfach nur an, ohne was zu sagen.

„Warum treffen wir uns hier? Ist Leah schwanger oder hast du ihr einen Antrag gemacht?", frage ich scherzhaft, weil die beiden gerade so eng beisammen stehen. Joe verdreht die Augen, während Leah doch tatsächlich einen roten Kopf bekommt. „Nein, wir müssen über unser Budget reden. Gott sei Dank übernimmt die Versicherung die Kosten wegen der Scheiben, aber wir sollten uns mal darüber unterhalten, ob wir unser Sicherheitskonzept überarbeiten sollten oder nicht. Zudem stagniert der Gewinn gerade und da muss man abwägen, ob wir uns eine Aushilfe leisten können oder nicht. Das sind alles Dinge, die wir besprechen sollten. Und zwar morgen." „Am Wochenende kann ich nicht." Ich opfere doch nicht das Wochenende mit Viki, um mir haufenweise Zahlen um die Ohren gehauen zu bekommen. Ich weiß, dass gehört auch dazu, wenn man ein Geschäft leiten möchte, aber trotzdem. „Das war kein Vorschlag, Jakob.", erwidert Joe ernst und ich schaue von meinen Gerätschaften hoch zu ihm. Er sieht auf einmal angespannt aus. „Morgen um elf.", schiebt er hinterher. An seinem Tonfall erkenne ich, dass das nicht verhandelbar ist. „Ich dachte, wir würden demokratisch Entscheidungen fällen?", fragt Leah scherzhaft, um die Situation aufzulockern. Joe rollt seine Schultern. „Das tun wir auch, aber ich will das besprochen haben, bevor das Finanzamt hier auftaucht. Die haben sich nämlich für kommende Woche angekündigt." „Echt?", fragt Leah noch mal nach. „Das Finanzamt muss sich mindestens drei Wochen vorher ankündigen.", belehrt sie uns. Joe zuckt die Schultern. „Kann gut sein, aber ich will es mit ihnen nicht schon verscherzen. Wir haben nichts zu befürchten, aber ich will die offenen Fragen vorher besprochen haben." Er wirft mir einen Blick zu. „Ich werde da sein.", versichere ich. Dann wird es wohl kein volles Viki-Wochenende geben.

Kurz darauf verabschieden sich die beiden und auch ich beende meine Arbeit und prüfe beim Verlassen des Ladens gleich zweimal, ob die Überwachungskameras und die Alarmanlage eingeschaltet sind. Sowie ich auf dem Weg zu einem Blumengeschäft bin und dem Schneematsch am Straßenrand ausweiche, denn die Temperaturen sind seit gestern vergleichsweise mild geworden, sodass der Schnee zu schmelzen begonnen hat, kommt mir eine gemeine Idee. Der Besuch des Finanzamts wird doch nicht auf Vikis Mutter zurückzuführen sein? Bis gestern hat sie sich noch immer nicht bei Viki gemeldet. Ich rüge mich zugleich. Ich kenne diese Frau nicht und stelle doch so eine gemeine These auf? Vielleicht liegt es auch daran, dass Viki erwähnt hat, dass ihre Mutter trotzig sein kann und es mir so schwer wie möglich machen will.

Winternacht - Zurrenberg RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt