28.

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Als alle Fragen geklärt waren, trat Samuel neben seine Tochter und legte ihr den Arm um die Schulter.
„Komm Tia, lass uns zur Gedächtnisstätte gehen."
Das Mädchen schluckte schwer, nickte dann aber.
Schweigend wanderten sie die Gänge entlang und traten kurz darauf in den Sonnenschein.
Tia legte ihre Hand auf den Arm ihres Vaters und sah ihn bittend an.
„Gib mir noch einen Moment, Vater."
Samuel nickte und ließ seine Tochter los. Suchend blickte das Mädchen sich um und lief dann die Wiese ab, den Blick stets auf den Boden geheftet. Immer wieder bückte sie sich und hob einen kleinen Stein auf, doch jedes Mal legte sie ihn mit einem Kopfschütteln zurück.
Von Mal zu Mal wurde Tia frustrierter. Sie merkte gar nicht, wie Samuel neben sie trat und ihr erneut den Arm um die Schulter legte.
„Hast du schon bei der Quelle geschaut? Dort hast du schon oft schöne Steine gefunden."
Stumm schüttelte seine Tochter den Kopf. „Er soll etwas Besonderes sein, Vater."
Verständnisvoll nickte Samuel. „Was hältst du von einem Stein aus dem Durchbruch? Quasi ein Stück des Weges?"
Tias Augen blitzten freudig auf.
„Dann komm."
Mit einem Lächeln führte er seine Tochter zum Höhlenzugang, wo Noah gerade den ersten Korb mit Geröll herausbrachte, damit mit den Felsstücken am Ende der Zugang verschlossen werden konnte.
Als Tia sich nach unten beugte, klopfte der junge Werwolf ihr sanft auf die Schulter.
Suchend glitten die Finger der jungen Frau durch die Steine. Sie schob die größeren Brocken zur Seite, um an die kleineren Splitter zu gelangen.
Geduldig beobachtete Samuel seine Tochter, bis sie schließlich ein fast rundes Gesteinsstück emporhob. Sofort fingen sich die Sonnenstrahlen in dem eingeschlossenen Erz und ließen ihn bunt aufleuchten.
„Was meinst du, Vater?"
Der Alpha nickte. „Ein sehr schöner Stein."
Auch er beugte sich nun hinab und wählte ein kleines, schlichtes Felsstück aus, das er in seine Tasche gleiten ließ.
Hand in Hand gingen sie auf den Waldrand zu.

Stille umfing die Beiden, als sie den Wald betraten.
Nur ein paar Vögel zwitscherten leise, als Samuel und Tia dem ausgetretenen Pfad zur Gedächtnisstätte folgten.
Vor dem Efeuvorhang blieben sie stehen und sahen sich an. Eine sanfte Brise umfing sie, ließ den Efeu sich im Wind bewegen und hob ihn leicht an.
„Sie wartet schon auf uns." Tia lächelte traurig und wartete, bis ihr Vater die Ranken zur Seite geschlagen hatte.
Während sie gemeinsam an den Gräbern vorbeigingen, wandte Tia wie so oft den Blick nach oben, wo der sanfte Wind in den Blättern der Bäume spielte.
Wie stets griff sie in den Korb, holte einige bunte Steine hervor und legte – wie auch ihr Vater – auf jede Grabstelle einen kleinen Stein.
Hand in Hand kamen sie schließlich vor dem Grab der ehemaligen Luna zum Stehen.
Tia und Samuel sahen sich an. Beide hatten sie Tränen in den Augen, als sie in die Knie gingen und ihre Hände auf die alte, verwitterte Grabplatte legten.
Stumm senkten sie die Blicke, ein Jeder in seine Gedanken versunken.
Der Wind in den Blättern nahm zu und Samuel legte seinen Stein lächelnd auf den Grabstein in das Muster aus Steinen.
Tia schluckte schwer. Dann legte auch sie ihren Stein dazu. Suchend glitt ihr Blick über die vielen Steine.
Mit einem Lächeln griff sie sich den einzigen Gegenstand aus dem Muster, der nicht aus Stein war.
Als sie die Faust öffnete, lag in ihrer Handfläche ein hölzernes, glatt poliertes Herz. Obwohl seit Jahren der Witterung ausgesetzt, war es nicht verwittert. Vielmehr waren die dunklen und hellen Streifen der Holzmaserung deutlich zu erkennen, das Holz selbst sorgfältig und regelmäßig geölt.
Samuel fuhr seiner Tochter zärtlich über den Kopf. „Ich weiß noch, wie du es als kleiner Welpe deiner Mutter geschenkt hast. Sie hat es immer bei sich getragen.
Tia schluchzte leise auf. „Ich vermisse sie so sehr, Vater."
„Ich auch, Tia. Jeden Tag."
Sanft zog er sein Kind an sich und strich ihm beruhigend über den Rücken.
Erst, als sich Tias Schluchzen wieder beruhigt hatte, löste er sich von ihr.
„Es tut mir Leid, Tia. Ich muss zurück ins Dorf. Es gibt noch viel zu regeln."
Mit verquollenen Augen sah Tia auf. „Darf ich noch etwas hierbleiben?"
Samuel atmete tief durch. „In Ordnung. Ich schicke dir Noah. Er wird vor der Gedenkstätte auf dich Warten."
„Danke, Vater."

Die Julius Chroniken - Teil 1: Die ProphezeiungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt