Juliette
Das Erste, was Juliette fühlte war, Nervosität. Eiskalte, angsteinflößende Nervosität, die sich langsam, wie ein Käfer, über den Rücken ihres Opfers hinauf bewegte, bis sie oben am Hals war und schließlich ihren tödlichen Stich ausführen würde.
Andererseits hatte Juliette wenig Lust, heute einen Nervenzusammenbruch zu erleiden, oder aber in Ohnmacht zu fallen. Darum schüttelte sie sich kurz, das Gefühl wurde schwächer, aber blieb ihr im Nacken sitzen. Lars ritt neben ihr her und er saß genauso angespannt auf Siegesstolz, wie alle anderen auch. Juliette klammerte sich an das letzte bisschen Sonnenschein, dass sie durch die Wolken erreichte. Die Sonne stand bereits tief, bald schon würde es Abend sein.
Juliette schluckte einen Teil ihrer Nervosität hinunter, dann wagte sie einen Blick in das Tal, welches vor ihnen lag. Es sah genauso aus, wie der Rest des Landes, das Mortis umgab.
Trockenes Gras bedeckte die Erde, die nur durch das Blut der letzten Schlachten noch feucht war, dort, wo sie vor kurzem ein Gefecht gehabt hatten. Ansonsten war der Boden staubig und das gelbliche Gras war das einzige Gewächs, abgesehen von vereinzelten grünen Bäumen, die meisten davon am Flussufer und nicht wenige von ihnen waren Magnolienbäume weswegen dieser Baum auch im Wappen Mortis' zu sehen war. Dieses idyllische, friedliche Steppenbild wurde allerdings von den dunklen Zelten verdorben, die an beiden Ufern des Flusses lagen. Dunkelgrau und schwarz hoben sie sich von dem Grasmeeren ab, vereinzelt waren sie rot und in einem hellen Grauton, fast schon weiß. Es gab einige Lagerfeuer, die den Geruch von gebratenem Fleisch verbreiten. Vor dem Fluss waren Bäume gefällt worden und unter regen Treiben wurden dort Bauarbeiten für eine Brücke vorangetrieben.
Plötzlich kam ein Wind auf, ein kalter, frostiger der an Juliettes Kleidern und ihrem Haar zog. Der Schauder der Nervosität breitete sich über ihren Rücken aus. Juliette blickte zu Lars, aber der ältere Heerführer würdigte sie keines Blickes, sondern starrte mit steinernem Blick nach vorne zu dem Lager ihrer Feinde. "Lars.", sagte Juliette in die Stille, die nur durch Seufzen und Wimmern ihrer Leute gebrochen wurde. "Ja. Lass uns gehen.", antwortete er kühl. "Wie sollen wir ihnen Verhandlungen andeuten? Einen Waffenstillstand?" "Bote.", entgegnete Lars. Juliette fragte sich, ob ihre Angreifer wussten, was das war. Eine Ritterin von Lars' Heer, Oreni, brachte den Boten sogleich. Auch ihr Blick war verängstigt, obwohl sie für ihre guten Strategien bekannt gewesen war und sogar manchmal mit Nadine zusammengearbeitet hatte um Pläne zu erstellen.
"Na, dann wollen wir doch mal...", brummte Juliette. Lars kniff die Augen zusammen, denn ein vereinzelter Strahl der Sonne blendete seine Augen. Wortlos ritt er hinab, der Bote neben ihm her. "Oreni! Bleib etwas hinter uns zurück mit unseren Leuten.", wie Juliette die Frau an. "Und sag Chana, dass sie sich auch bereit machen soll. Ebenso wie Eton, bitte." "Wie Ihr befehlt, Heerführerin." Oreni wendete ihren kleinen Haflinger, um das dem Heer zu sagen.
Juliette drehte sich nicht mehr nach ihr um, stattdessen ritt sie Lars nach, natürlich auf Abstand um Sicherheit zu gewährleisten. Ob für sie oder jemand anderen konnte Juliette nicht sagen.
Oreni brüllte irgendetwas hinter ihr. Auf einmal hörte Juliette, dass sich ein Reiter nährte. "Heerführerin Kerz, was hat Heerführer Prence vor?", sagte eine raue Stimme. Als Juliette zur Seite sah, bemerkte sie Savanna, die sich wohl ein neues Pferd geliehen hatte. "Wir nehmen Verhandlungen auf.", sagte die Heerführerin und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. "Solche, die oft tagelang dauern?" fragte Savanna begeistert und ihre Augen leuchteten. "Das heißt, wie bekommen eine Kriegspause?" "Ich weiß es nicht.", antwortete die Blonde gereizt. "Warte es ab. Wir werden das schon früh genug erfahren." Mit diesen Worten ließ sie Savanna stehen und gab ihm Hengst die Sporen zu spüren.
Das braune Tier folgte ihr augenblicklich und trug sich schneller zu Lars. Sie hatte das Pferd schon sehr lange und Raklagon, benannt nach dem lothorianischem Gott der Unterwelt, folgte ihr auf das Wort- ganz im Gegensatz zu Nenans Niersbachs Klinge oder Justins wilder Stute Olympia. So kam es, dass sie schnell an Lars' Seite war. Als er sie bemerkte, schickte er den Boten alleine weiter. Die Heerführer blieben wartend stehen. Das erste Zelt der Feinde war schon ganz nahe, nicht mal noch 100 Meter weit weg.
"Ich habe Lahnol ein Schreiben gegeben.", sagte Lars mit Blick nach vorne. "Was steht drin?", fragte Juliette. "Ich habe geschrieben, dass wir verhandeln und uns in einer Stunde hier treffen werden. Falls sie verhandeln möchten." Die Frau nickte, dann wendete sie ihr Pferd. "Wohin willst du, Kerz?", rief Lars ihr nach. "Eine Stunde, Lars! Eine Stunde! Das ist die Stunde, die unsere Leute brauchen, um zu rasten. Auch wenn es nur eine Stunde ist." Lars widersprach nicht. "Ich warte hier." Als Antwort trieb Juliette weiter Raklagon an. "Na los! Müde Soldaten können nicht kämpfen!" "Und müde Heerführer können nicht denken.", fügte sie in Gedanken hinzu, während sie zu ihren treuen Kriegern hinüber ritt.
Weit entfernt steht Justin Hendoras und denkt an sie. Aber nicht nur an Juliette, auch an Lars, der für seine Familie kämpft, an Nenan, der für den verlorenen Teil seiner Seele kämpft, der mit Nadine unterging. Er denkt an Chana, die so gefühlvolle Gedichte schreibt und doch keine Emotionen zeigt. Er denkt an Eton, Juliettes engsten Vertrauten neben Chana, essen Traum es immer war,, den Helden Mortis' zu dienen, er denkt an den alten Léon, dessen Geschichten nächtelang die Burg erfüllten, Lahnol, den Boten Lars', der so ein ansteckendes Lachen hatte, dass man nicht still bleiben konnte, er denkt an den verletzten Lethan, dessen ganzer Stolz sein Garten war, er denkt an Tobias, Lethans halb toten Kameraden, der sich tapfer gegen den Tod wehrt, er denkt an Goliardon, wie standhaft er an Lothorias Götter glaubt, und er denkt an Nadine, und das Leuchten in ihren Augen, wenn sie in der Taverne ein Trinklied sang, laut und kraftvoll.
Anderswo küsst sich ein Paar in der alten Hütte des legendären Jan Hell, dessen Geschichte dort begann, anderswo nimmt die Gemahlin des Mannes, der von so vielen als böser Feind gefürchtet wird, seine Hand und sie sehen sich liebevoll an, anderswo schlitzt ein Vampir die Kehle eines Kindes auf, dass den Tod früher kennenlernte, als die Bedeutung davon, oder als den Namen seiner Eltern. An einem anderen Ort gibt eine Meerjungfrau ihr Leben, um es ihrem Kind zu schenken, ein runzeliger Riese fällt neben seinen Enkeln in einen ewigen Schlaf, noch während er ihnen eine Geschichte erzählt. Und an einem weiter entferntem Platz sieht ein alter Mann in die Sterne und für jeden weiß er eine Geschichte, zum Beispiel die, eines Ritters, der in den Horizont blickt, genau wie eine blauhaarige Frau, deren Tränen ihr Gesicht und deren Schicksal die Geschichtsbücher bedecken.
Keiner weiß, ob sie tot sind, oder noch leben, aber Justin Hendoras stand dort, am höchsten Turm Mortis' und er wusste, ja, es gab Brutalitäten, aber es gab, nein es gibt, auch noch Liebe und Hoffnung. Hoffnung für Mortis'.
Justin Hendoras stand dort und er sah die Welt für einen kurzen Augenblick durch die Augen des Himmels.
Hoffnung für ganz Lothoria.
Möge sie überdauern.
ENDE DES ERSTEN TEILS
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Lothoria: Schwarzes Blut
Fantasia»𝕹𝖎𝖊𝖒𝖆𝖓𝖉 𝖜𝖎𝖑𝖑 𝖘𝖎𝖊 𝖘𝖊𝖍𝖊𝖓, 𝖉𝖎𝖊 𝖇𝖎𝖙𝖙𝖊𝖗𝖊 𝖂𝖆𝖍𝖗𝖍𝖊𝖎𝖙. 𝖁𝖔𝖗 𝖑𝖆𝖚𝖙𝖊𝖗 𝕷ü𝖌𝖊𝖓 𝖎𝖘𝖙 𝖓𝖚𝖗 𝖓𝖔𝖈𝖍 𝖉𝖎𝖊 𝕰𝖗𝖎𝖓𝖓𝖊𝖗𝖚𝖓𝖌 𝖜𝖆𝖍𝖗.« Krieg! Das lange im Frieden lebende Königreich Mortis wird angegriffen! A...