Kapitel 66

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Linus saß an dem langen Tisch im Restaurant, das nicht weit entfernt von der Kirche war. Die Kirche! In seinem Kopf tauchte ein Bild auf, auf das er gut hätte verzichten können. Nele mit ihrem Kind und ihrem Mann am Taufbecken. Neben ihr ihre Freundin als Taufpatin, die er noch gut aus ihren gemeinsamen Tagen kannte und die ihm auch mindestens einen bösen Blick zugeworfen hatte. Das musste er ja nicht verstehen. Er war nicht einfach in einer Nacht- und Nebelaktion abgehauen. Okay, er war Nele auch nicht hinterhergelaufen. Vielleicht hatte sie das erwartet. Aber wozu? Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und er hatte seine Zeit besser einsetzen können. Jedenfalls damals hatte er das geglaubt. Es war doch schön, wenn sie jetzt glücklich war. Er hatte wirklich nicht das Bedürfnis noch mehr an die Zeit damals erinnert zu werden. Ihm hatte schon das Zusammentreffen mit Ilona und der anschließende Albtraum gereicht. Nein, er lebte im Jetzt und nicht in dieser blöden Vergangenheit. Im Jetzt war alles gut. Und so sollte es auch bleiben. Mit seiner Kuchengabel fuhr er in das Stück Kuchen, das vor ihm auf dem Teller lag. Rings um ihn nahm er das Geplapper seiner Familie als Nebengeräusch wahr. Er versuchte sich wieder zu konzentrieren und den Gesprächen zu folgen, damit er sich auch mit einbringen konnte. Auch wenn er eigentlich keine Lust dazu hatte. Linus spürte, dass ihn jemand beobachtete und hob seinen Kopf. Er schaute geradewegs in Leas Augen, die ihn musterten. Das war....das war gar nicht gut. Obwohl.....er atmete erleichtert auf, denn seine andere Hälfte wandte sich ihrer großen Schwester zu. „Hat sich denn der Idiot endlich wieder wegen seinem Ego eingekriegt?" „Du sollst Marcello nicht so vor den Kindern nennen", fuhr Lydia hoch. „Wieso? Sie können ruhig wissen, dass ihr Vater ein Machoidiot ist, der seine Frau und sie nur verlassen hat, weil es für ihn eine Schmach ist, dass seine Frau das Geld nach Hause bringt, während er keinen Job hat. Anstatt er dann wenigstens seinen Anteil leistet und dich als Hausmann unterstützt. Nee, da steckt er lieber den Kopf in den Sand bei seiner Mama an der Adria und macht einen Abgang und lässt dich mit noch mehr Arbeit hier in Hamburg alleine sitzen." Auch wenn Linus zufrieden war, dass Lea ein anderes Opfer gefunden hatte, tat ihm seine große Schwester leid. „Soll ich mal mit ihm von Mann zu Mann reden?", schlug er deshalb vor. „Das ist eine gute Idee. Und am besten fährst du zusammen mit Patrick nach Italien, prügelst ihn windelweich bis er einsieht, was er da für einen Scheiß verzapft. Und dann schleppt ihr ihn wieder her, wo er hingehört." Lea stand Begeisterung ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz zu ihrem Mann. Patrick schüttelte nur seinen Kopf. „Das ist wohl nicht der richtige Weg. Das müssen deine Schwester und ihr Mann schon ganz alleine klären." „Danke, lieber Schwager", stimmte ihm Lydia zu. „Dann halt nicht." Lea stand mit ihrem Sohn auf dem Arm auf und kam um den Tisch herum gelaufen. „Dein Patenkind muss mal gewickelt werden." Mit diesen Worten reichte sie Linus den kleinen Fiete. „Und da du darin nicht so geübt bist, begleite ich dich sogar." Okay, so auffordernd wie Lea ihn anschaute, stand er lieber sofort auf und lief mit ihr mit. Alles andere führte nur zu längeren Diskussionen, die letztendlich trotzdem damit enden würden, dass er die Windel seines Neffen wechselte. Linus war sich absolut sicher, dass hinter ihnen die Tür des Wickelraums noch nicht einmal ins Schloss gefallen war, bevor Lea mit dem Gespräch begann, dass ihr auf der Seele brannte. Entweder würde es sich um Lydia und ihre Probleme handeln oder aber.....Nein, auf oder aber hatte er nun wirklich keine Lust. Er trat in den Raum neben den Toiletten und ließ die Türklinke los, nachdem seine Schwester ihm gefolgt war....drei, zwei, ei.....  „Wir müssen uns da was mit dem Idioten einfallen lassen. Hast du gesehen wie fertig Lydia aussieht", schoss seine Schwester wie erwartet los. „Ich kann ihr ja bei den Mädels ein bisschen unter die Arme greifen, bin ja zu Hause. Aber du knöpfst dir den Idioten mal vor und redest mit ihm Tacheles!" „Geht klar", brummte Linus nur. Er würde nicht Tacheles reden, aber ein vernünftiges Gespräch suchen. Sein Schwager war ja eigentlich ein ziemlich umgänglicher Typ. Lea nickte zufrieden. Gut, dann musste er nur noch die Windel von seinem Neffen erneuern und alles war gut. Er öffnete den kleinen Strampler. „Quatsch, der braucht keine neue Windel. Das war doch nur ein Vorwand." Lea schloss den Strampler wieder und nahm den Kleinen auf den Arm und drückte ihm einen Kuss auf seine speckige Wange. „Stimmt's wir wollten nur mal mit deinem Onkel reden und ihm auf den Zahn fühlen." Ach nö, jetzt kam doch noch das oder aber zum Zug und Linus hatte sich schon so sicher gefühlt. „Bei mir gibt es nichts zum auf den Zahn fühlen. Ich pflege meine Zähne immer gut", zwinkerte er Lea zu, auch wenn er sich sicher war, dass das nichts nützen würde. „Ja, genau. Ich weiß, dass Nele dich vorhin aus dem Gleichgewicht gebracht hat." Er schüttelte seinen Kopf. „Nicht im geringsten. Sie spielt in meinem Leben absolut keine Rolle mehr. Ich habe jetzt Ina und mein Leben in Düsseldorf. Da ist alles...." „Alles wieder genauso wie früher in Hamburg", unterbrach Lea ihn aufgebracht. „Papa und Mama haben doch erzählt, wie viel ihr beide da schuftet." Lea hob ihre Hand. „Du brauchst dich gar nicht aufblasen. Ich finde Ina ist eine ganz Süße und passt zu dir, aber was ist aus deinem Vorsätzen von damals geworden? Es gab doch einen Grund, warum du ruhiger getreten bist. Hast du das schon vergessen?" Hatte er das vergessen? Scheinbar schon irgendwie. „Ihr seid doch beide viel zu jung, um die ganze Zeit euch da nur abzurackern." Lea trat dichter und fuhr mit ihrer Hand durch sein Haar. Ein kurzes Ziepen überraschte ihn. „Hier schau, sogar graue Haare bekommst du schon von dem ganzen Stress." Sie hielt ihm das Haar vor die Nase, das sie gerade ausgerissen hatte. „Ist es das, was du willst? Ich mache mir echt Sorgen um dich. Du siehst total blass aus und hast Augenringe." Das war dann wohl seinem nächtlichen Albtraum geschuldet. „Und auch dein Sunnyboy-Lächeln ist verschwunden. Du schaust nur noch ernst. So wie damals. Ich will nicht, dass dir diesmal so etwas passiert wie deinem Kollegen. Und die Ina will das bestimmt auch nicht." Ja, da war er sich sicher. Das hatte sie ja schon mit ihrem Vater erlebt.  Linus zwang sich zu einem Lächeln. Ja, es war ungewohnt, aber es funktionierte noch. „Ich habe heute Nacht nur wenig Schlaf bekommen", zwinkerte er seiner Zwillingsschwester mit einem Seitenblick auf das Baby auf ihrem Arm zu. „Dann wollt ihr...." Lea wedelte mit ihrer Hand in der Luft. „Okay, dann darfst du weiter Augenringe haben", kicherte sie. „Das wäre so cool, wenn Fiete bald Gesellschaft von eurem Kind bekommt." Prima, seine Ablenkung vom eigentlichen Thema hatte geklappt. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Lea das nicht gleich am Tisch heraus posaunte. Das würde Ina mit Sicherheit ziemlich überrumpeln und seine Mutter würde wahrscheinlich spätestens morgen anfangen irgendwelche Babysachen zu häkeln. „Das soll aber noch niemand wissen", bremste er Lea deshalb schnell aus. Die grinste sofort breit und kreuzte die Finger. Das war ihr altes Zeichen von früher, wenn sie ein Geheimnis hatten, das unter ihnen beiden blieb. Er zog seine Schwester zusammen mit seinem Neffen in seinen Arm. Auch wenn er sie auf eine falsche Fährte gelockt hatte, gaben ihm ihre Worte zu denken. Ja, es musste sich wirklich etwas ändern.

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt