Per Aspera ad Astra II

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V streckte sich einmal und zupfte sich das Haarband, das sie nicht gelöst hatte, ehe sie ins Bett gefallen war, aus ihren Haaren. Kurz kämmte sie mit den Fingern ihre Locken und knotete sie dann wieder zusammen.

Sie fischte sich frische Kleidung aus ihrer Kommode, eine dunkle weite Bluse und eine Hose in ausgeblichenem Schwarz, und zog beides an.

Dann schlüpfte sie wieder in ihre Stiefel und trat aus ihrem Zimmer. Leise, um niemanden zu wecken, schlich sie auf dem Flur entlang und eine Treppe hinab, bis sie an einer Tür ankam. Dahinter erstreckte sich ein weiterer Korridor und an dessen Ende fand sie den Gemeinschaftsraum.

Zu Anfang hatte sie die zahllosen Gänge als Labyrinth wahrgenommen, aber mittlerweile gelernt, dass im Chaos eine eigene Ordnung herrschte.

Sie betrat den Gemeinschaftsraum. Ein Saal, der sich zwar weit ausdehnte, damit jeder aus der Gruppe Platz fand, doch gleichzeitig war er nicht so groß, dass man sich darin verloren fühlte, selbst wenn man sich allein in ihm aufhielt.

Aber selbst zu dieser frühen Stunde war V nicht die Einzige dort. Im Kamin prasselte ein Feuerchen und umkränzte sich mit warmem Licht. Hin und wieder knackte es leise und einige Funken stoben in die Luft.

Davor lag ein Wolf, der sich den Pelz wärmte und nicht einmal den Kopf von seinen Pfoten hob, als er das Geräusch der Tür hörte. Nur sein Ohr zuckte in ihre Richtung. Die müden Knochen bewegte er ausschließlich, wenn er es für notwendig erachtete. Meistens nur, wenn man ihm entweder Futter oder einen Spaziergang versprach.

Schon lange bevor V sich der Gruppe angeschlossen hatte, war er ein Teil von ihr gewesen und sie konnte sich nicht ausmalen, wie alt er wohl sein mochte. Grau durchzog das dichte Fell und die Augen sahen kaum noch, halb erblindet wie sie waren.

»Na, Dasan«, begrüßte V ihn leise. »Wenigstens du kannst schlafen.«

»Du etwa nicht?«

V machte einen Satz zur Seite. Nein, es war nicht der Wolf, der gesprochen hatte, sondern ein breitschultriger und hochgewachsener Mann, der in einem Ohrensessel vor dem Kamin saß. Die roten Haare, deren Ansatz sich grau färbte, bändigte er in einem Zopf. Mehrere Narben zerfurchten das kantige Gesicht, die auffälligste zog sich quer über die linke Wange bis zu seinem Kinn.

Als V ihm vor zehn Jahren das erste Mal begegnet war, hatte sie angefangen zu weinen, geschrien, dass sie nicht dort bleiben wollte, und sich an dem Bein der Person festgeklammert, die sie dorthin gebracht hatte.

Mittlerweile hatte sie gelernt, dass auf niemanden die Beschreibung ›sanfter Riese‹ besser zutraf als auf Sal.

»Du hast mich erschreckt«, sagte sie und ließ sich in den zweiten Sessel vor dem Kamin fallen. »Auch wach?«

Sal nickte. »Luana wälzt sich seit Stunden umher und schlägt um sich. Irgendetwas wühlt sie auf ... Es ist schon eine Weile her, dass sie so unruhig geschlafen hat.«

»Solltest du dann nicht vielleicht bei ihr sein?«, fragte V. »Sie beruhigen oder so?« Unmittelbar nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, hätte sie die Worte am liebsten zurückgenommen. Was verstand sie schon von Beziehungen?

Sal lächelte schwach und schüttelte den Kopf. »Noch mehr blaue Flecken brauche ich nicht. Die Frau hat einen guten Schlag, auch wenn man es ihr auf den ersten Blick nicht zutraut.«

Er sah von V zu Dasan. »Außerdem wird die Sonne bald aufgehen und der alte Herr möchte dann sicherlich sofort vor die Tür. Und wenn ich mich jetzt nochmal hinlege, stehe ich nicht vor mittags auf.«

Dasan brummte kurz, als hätte er verstanden, dass er mit ›alter Herr‹ gemeint war.

»Ich kann das machen«, sagte V schnell. Ein bisschen Ablenkung von den Ereignissen in der Nacht würde ihr gut tun.

The Tale of Greed and VirtueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt