Kapitel II

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Ich stoße die Tür zu unserem Holzhaus auf.

„Cassie, bist du das?“ höre ich meine Tante aus der Küche rufen.

„Ja, ja ich bin da“, erwidere ich und streifen meine Schuhe ab.

„Du sollst doch Bescheid sagen, wenn du länger wegbleibst“, tadelt sie mich, als sie in den Flur kommt. Sie sieht geschafft aus. Ihre blonden, gewellten Haare fallen ihr unordentlich über die Schultern und ihre hübsche Bluse mit Blumenkästen ist geknittert.

„Ja, tut mir leid.“

Sie verdreht die Augen und schnaubt auf. „Sag es nicht, wenn du es nicht ernst nimmst.“ Es ist nicht das erste Mal. Manchmal ertrage ich es einfach nicht, nach Hause zu kommen.

„Tut mir leid.“ Sie sieht mich böse an und ich verziehen meine Lippen kurz zu einem Grinsen.

„Möchtest du etwas essen?“, fragt sie mich dann seufzend.

„Nein, ich habe keinen Hunger, aber danke.“ Dann verschwinde ich die Treppen hinauf in mein kleines Zimmer. Früher war es vermutlich mal ein Abstellraum, es passt kaum das Bett und ein winziger Tisch mit Stuhl rein. Ich bin unglaublich froh über die Privatsphäre, meine drei Cousinen teilen sich das Zimmer nebenan. Es ist aber auch vier mal so groß wie meins und sie sind noch jung. Coelin, die älteste, hat gerade erst an der Akademie begonnen. Azur und Saphir gehen beide noch an die Allgemeinschule, es wird zum Glück noch drei Jahre dauern bis die Hungerspiele für sie eine Rolle spielen.

Coelin ist gerade vor zwei Wochen zwölf geworden, die Ernte findet in etwa zwei Wochen statt. Seit ihrem Geburtstag liege ich jede Nacht grübelnd da und frage mich, was passiert, wenn sie gezogen wird und wir alle hier sitzen und zusehen müssen, wir sie stirbt. Auch wenn sie inzwischen fest zu meiner Familie gehört muss ich leider zugeben, dass Coelin vermutlich nicht einmal schnell genug vom Füllhorn wegkommen würde, um sich zu verstecken. Schon als Kind war sie immer kränklich und ihr Zustand hat sich bisher nicht viel gebessert. Auch wenn sie sich große Mühe an der Akademie gibt, es sind die schriftlichen Noten, in denen sie gut abschneidet. Von den fast sechzig Kindern in ihrem Jahrgang hat sie es auf Platz 49 geschafft.
Ich kann nur für sie und mich hoffen, dass die Gerüchte, dass es dieses Jahr wieder niemanden gibt, der sich freiwillig melden möchte, falsch sind. Aber der älteste Jahrgang ist klein, hat nur 19 Schüler und anders als in meinem Jahrgang gibt es dort keine Verrückten. Und die Verrückten aus meinem Jahrgang sind nicht so weit von der Realität entfernt, dass sie sich ein Jahr zu früh melden wollen würden.

Jedes Jahr in den Wochen vor der Ernte schlafe ich schlecht. Schrecke hoch aus Alpträumen oder liege ewig wach und grüble nach. Wenn die Sonne dämmert bin ich wach und mache mich auf den Weg in die Akademie.

Das Haus ist noch vollkommen still, wären wir eine Fischerfamilie, wären schon längst alle auf den Beinen, aber meine Tante Blue ist Lehrerin an der Allgemeinschule. Sie wurde vom Kapitol ausgewählt und nun genauestens beobachtet, aber auch besser entlohnt als in den meisten anderen Berufen. Nur an der Akademie würde sie besser verdienen. Die Arbeit mit den jungen Kindern macht ihr aber am meisten Spaß und sie scheint auch bei ihren Schülern und deren Eltern sehr beliebt zu sein.

Auch die Akademie ist noch ruhig. Hin und wieder huschen einige Schüler über die Gänge. Ich gehe in die Cafeteria und hole mir etwas zu essen, dann in die Bibliothek, um Zusatzaufgaben zu erledigen. In der Akademie gibt es, anders als in der Allgemeinschule, keine Hausaufgaben. Der Unterricht beginnt um halb acht und es kommt nicht selten vor, dass die älteren Schüler noch um 21 Uhr im Trainingsgebäude stehen. Kaum Zeit, zusätzliche Aufgaben zu erledigen, aber sie bringen Punkte für die Rangfolge. Wenn ich in dieser Arbeit eine hohe Punktzahl erreiche und meinen Schwimmrekord von gestern vor dem Trainer wiederholen kann, rücken ich noch vor den Spielen auf Platz drei auf.

Die Tribute von Panem - Eisige WellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt