Ich erinnere mich nicht mehr an den Duft der Mohnblumen

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POV Inéz

Ich fühle mich wie in einer nie endenden Trance.
Mittlerweile bedanke ich mich sogar bei der Ärztin, wenn sie mir Medikamente verabreicht. Ich weiß, dass das jetzt völlig irre klingt, aber das ist das einzige Highlight in meiner derzeitigen Existenz.

Diese Mittel lähmen meine Gefühlswelt zumindest ein bisschen und ich denke weniger über Sachen nach. Zum Beispiel, dass ich noch immer nicht weiß, ob Seth lebt, wann ich hier rauskomme und was mich am neu anbrechenden Tag erwartet.

Ich erinnere mich nicht mehr an den Duft der Mohnblumen. Mum, denke nicht, ich habe dich vergessen. Mum, denke stattdessen an meine baldige Freiheit und sobald ich sie erlange, werde ich das Beet pflegen, Schweiß und Tränen aufwenden, um die Mohnblumen wieder sprießen zu lassen. Mum, ich hole das nach. Dein Duft wird wieder zu mir zurückkehren...

„An was denkst du Lieblingstochter?" Eine weit entfernte Stimme erfüllt den Raum. Ich erkenne sie nicht, aber mir wird unwohl in der Magengrube.

„Ich denke an nichts." Antworte ich daraufhin. Rede ich gerade mit einer wirklichen Person oder sind es meine Sinne, die sich einen Spaß erlauben?

„Dein Vater wollte mal nach dir sehen."

„Mein Vater?"

„Ja, dein Vater Pablo. Ich bin hier meine Kleine."

„Du bist nicht hier. Du bist weg." Ich starre ins Leere, ins Nichts.

„Aber was redest du denn da Inéz? Ich stehe direkt vor dir. Nun sieh' mich nicht so an mit deinen Kulleraugen."

Was sagt er da? Ich sehe ihn nicht einmal an. Eigentlich sehe ich überhaupt nichts. Pablo, Vater? Du bist hier?

„Inéz, du siehst schrecklich aus. Aber keine Sorge, ich werde dir aus dieser Spirale heraushelfen. Die Schläuche und Therapien werden die wahre Inéz zurück zu mir bringen."

„Ich gehe hier verloren, Vater."
Eine Hand legt sich auf meinen Rücken und fährt meine Wirbelsäule entlang. Es ist eine raue, eiskalte Hand. Ich biege meinen Rücken durch und vergrabe die Hände in meinem Gesicht.
Jede Rinne, jeden Wirbel fährt er entlang und atmet genervt ein und aus. Vater, du bist enttäuscht von mir und ich bin es auch von dir. Sind wir nun endlich quitt?

„Dein Onkel Miguel ist tot." Erwähnt er und hielt es wohl für nötig, mich das wissen zu lassen.

„Ruhe er in Frieden." Versuche ich hinauszubringen. Jack ist tot.
Miguel ist tot.
Tut mir das Schicksal einen Gefallen?
Ich weiß, dass ich jetzt ziemlich unemphatisch herüberkomme, doch wie kann man für solche Untiere überhaupt Empathie empfinden?

„Was ist mit Seth, Vater? Sag' mir bitte, lebt er noch?"

„Deine Gedanken drehen sich schon wieder um diesen Kerl. Verschone mich damit." Eine abwertende Handbewegung seinerseits.

„Ich werde hier auch nicht verschont. Vater, sieh' mich an."

„Aber Kleines, ich sehe dich doch an."

„Sieh' mich an."

„Sieh' MICH an."

„SIEH' MICH AN!!" Ich schlage um mich, wie eine manische Furie.

„SIEH' MICH VERDAMMT NOCHMAL AN."

„Inéz...du bist gestört." Er umklammert mich fest, sodass ich stillhalten muss.

„Vater, du siehst mich nicht. Du siehst nichts, außer deine unmenschlichen Pläne mit mir. Du siehst ein Projekt in mir..."

„Ich sehe eine Tochter vor mir, die - wenn sie so weitermacht - nicht länger meine Tochter sein wird."

„Weißt du was? Ich will das auch nicht länger sein."'

Er hat mich geohrfeigt. Gut, das hatte ich auch nicht anders erwartet.

„Pablo du hasst es, wenn du mir in die Augen schaust. Denn wenn du das tust, erkennst du Mum in ihnen wieder. Du hasstest Mum und jetzt hast du entschieden, mich zu bestrafen, mich zu hassen und zu demütigen." Die Medikamente scheinen nicht mehr zu wirken. Ich sehe klarer und ein unerträglicher Druck presst gegen meine Brust.

„Du verstehst das Alles falsch. Melanie war eine Nutte, eine billige scheiß Nutte! Ich will dich vor diesem Schicksal bewahren."

„Vater...du hast Mum geschlagen, gestraft und weggesperrt. Denkst du wirklich, dass ich als kleines Kind überhaupt nichts davon bemerkt habe?"

„Deine Mum ist nicht so rein, wie du denkst. Sie hatte sechs Jahre mit dir und das hat schon ausgereicht, um dich zu beschmutzen. Ich hätte früher eingreifen sollen." Brüllt er unkontrolliert.

„Vater, sie hat sich wegen dir das Leben genommen. Wenn hier einer schmutzig ist, dann ja wohl du!" Verdammt. Ich hasse ihn so sehr. Mum, ich liebe dich so sehr.

„Ich soll schmutzig sein? Nur weil ich dich beschützen wollte. Sie nahm sich nicht das Leben, ich übernahm das gern für sie!" Er verstummt, steht auf und verlässt den Raum.

MUM.

MUM.

MUM.

Scheiße!

Mum.

Mum.

Mum.

Mum, ich sterbe. Mum, es tut mir alles so leid. Ich war zwar erst sechs Jahre alt, doch ich hätte mit dir fliehen müssen.

Du brachtest dich nicht selbst um und ich lebte im Glauben, dass du mich zurückgelassen hast. Du hast mit Vater die Hölle durchgemacht, aber du bliebst für mich am Leben. Du nahmst diese Bürde auf dich, um für mich da zu sein.

Vater durchkreuzte deinen mütterlichen Beschützerinstinkt und nahm dir deinen Lebensatem. Mum du bist ALLES, aber nicht schmutzig. Du bist meine wundervolle Mum.

Und Pablo ist mein abscheulicher Vater.

(Danke für's Lesen <3 Was haltet ihr von Inéz' Gedankenwelt?) ~ Gerne Votes dalassen

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