Kapitel 84

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Seit Lucas und Genias Auftauchen in der Villa waren erst ein paar Stunden vergangen. Linus schaute zu Ina, die am alten Sekretär ihrer Mutter saß. Er saß zusammen mit Luca auf dem Sofa. Auch sein Kumpel schaute mit einem besorgten Blick zum Sekretär. Inas Verhalten war eine totale Überreaktion. Und das war mit Sicherheit nicht gut. Er musste an den Moment denken als er zusammen mit Luca in die Küche gekommen war. Genia hatte Ina im Arm gehalten und sie hatte geweint wie ein Schlosshund. Ja, das war durchaus normal, wenn man vom Tod des eigenen Vaters erfuhr. Linus konnte nur ansatzweise erahnen, wie es sich für Ina angefühlt haben musste als Genia ihr das gesagt hatte. Er dachte an die Euphorie und den Optimismus, die sie kurz vorher aus jeder Pore ausgestrahlt hatte. Umso mehr musste der Tod sie wie aus heiterem Himmel getroffen haben. Und dann war etwas in der Küche passiert, mit dem niemand von ihnen gerechnet hatte. Ina hatte sich von ihrer Mutter gelöst, sich die Tränen vom Gesicht gewischt und war ins Wohnzimmer zu dem Sekretär marschiert, als wäre nichts passiert. Und dort saß sie seitdem und schrieb irgendwelche To-Do-Listen. „So, jetzt wird erst einmal etwas gegessen." Genia kam mit einem Tablett mit vier Tellern ins Wohnzimmer marschiert. Linus bezweifelte zwar, dass Ina einen Happen herunterbringen würde und noch mehr bezweifelte er, dass Genia damit überhaupt ihre Aufmerksamkeit erregen würde. Es hatte nämlich den Anschein als wäre sie in einem Tunnel, durch den nichts zu ihr durchdrang. Genia stellte das Tablett auf dem Tisch vor ihnen ab und lief dann zu Ina. „Komm!" Sie zog sie am Arm hoch. Ina ließ sich aber gleich wieder zurück plumpsen. Das hatte er befürchtet. „Ich habe keine Zeit zum Essen. Ich muss eine Beerdigung organisieren." Genia schüttelte ihren Kopf. „Nein, du wirst jetzt etwas essen." Sie zog Ina wieder vom Stuhl hoch. „Sonst muss ich nämlich nachher deine Beerdigung organisieren. Und darauf habe ich nicht die geringste Lust. Wir setzen uns jetzt hier hin." Genia schob ihre Tochter entschlossen zum Sofa und drückte ihr einen Teller mit einem Brot darauf in die Hand. „Pass mal auf mein Schatz. Das Ganze war ein tierischer Schock für dich. Und du musst dir erst einmal die Zeit zum Trauern nehmen und dich etwas ausruhen. Die Beerdigung können wir dann auch noch morgen in Angriff nehmen. Das läuft uns ja nicht weg." Ja, da hatte Genia wohl recht. Die wenigsten Toten liefen noch irgendwohin. Linus erkannte aber auch an Inas Gesicht, dass die Worte nicht wirklich zu Ina durchdrangen. Sie starrte vor sich hin als würde sie die To-Do-Listen weiter in ihrem Kopf erstellen. Sie stellte den Teller zurück auf den Tisch und stand wieder auf. Genau wie Genia, die sie einfach festhielt. „Schatz, bitte nicht. Bitte setz dich zu uns und lass deine Gefühle einfach raus." Ina schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich muss mich um die Beerdigung kümmern. Das erwarten die Leute von mir. Und Papa würde das auch erwarten. Ich bin eine Preetz und eine Preetz weint nicht. Das würde Papa nicht wollen." „Verflucht nochmal! Du musst gar nichts. Dein Vater ist heute Nacht gestorben. Und du hast jedes Recht darauf erst einmal zu trauern. Es ist scheißegal, was irgendwelche Leute mit verkniffenen Ärschen von dir erwarten. Und außerdem bist du auch eine Schulz und damit hast du jedes Recht auf Gefühle und auch darauf zu weinen. Und diese antiquierten Ansichten sind mir allesamt scheißegal. Mir ist aber nicht egal, was mit dir ist. Ich habe Angst um dich, wenn du alles in dich hineinfrisst. Du bist doch meine Tochter." Die letzten beiden Sätze waren nicht mehr wütend sondern schluchzend aus Genias Mund gekommen. Scheinbar waren genau die Schlüsselworte in den Sätzen enthalten, denn Ina schaute ihre Mutter mit aufgerissenen Augen an und dann fiel sie ihr einfach in die Arme und die Tränen rannen ihr in wahren Sturzbächen über die Wangen. Ina krallte sich an ihrer Mutter fest. Ihr Vater war tot. Und sie war nicht bei ihm gewesen. Das konnte doch gar nicht sein. Der Arzt hatte doch gestern gesagt, dass alles gut werden würde. Wieso war er dann heute Nacht gestorben? Sie konnte es einfach nicht begreifen. Er hatte ihr doch gestern gesagt, dass er sie lieb hatte. Da konnte er doch nicht einfach gehen. Nein, das durfte nicht sein, dass sie ihn niemals wieder sah. Es gab doch noch so vieles, was sie ihm sagen und ihn fragen wollte. Noch mehr Tränen quollen aus ihren Augen und sie schluchzte laut auf. Sie hatte das Gefühl, dass ihr ganzes Inneres brannte und schmerzte. Es war genauso wie damals als ihre Mutter gestorben war. Damals hatte ihr auch ihr Herz so weh getan. Aber damals hatte sie nicht weinen gedurft. Nur Natascha hatte geweint, aber sie war ja auch noch ein kleines Kind gewesen. Natascha!  „Ich...ich muss...ich muss Natascha Bescheid sagen", schluchzte sie auf. Das musste ein Schock für ihre Schwester sein. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie .... „Wie soll ich ihr erklären, dass wir beide jetzt ganz alleine sind?" „Ihr seid nicht alleine. Ihr habt uns." Die Stimme ihrer Mutter war entschlossen und ließ keinen Zweifel aufkommen. „Jetzt kümmere ich mich erste einmal um dich und dann fahren wir zusammen zu meinem Papa und Alex und kümmern uns um Natascha." Ina nickte. Das klang logisch. Sie musste erst einmal wieder sich beruhigen. So konnte sie ihrer Schwester nicht gegenübertreten. „Und die Beerdigung? Ich muss mich doch um die Beerdigung kümmern."  Genia schüttelte ihren Kopf. „Nicht heute. Es ist Wochenende. Da kümmern wir uns Montag drum. Heute hat sowieso kein Beerdigungsinstitut offen."  Wieder nickte Ina mit dem Kopf. „Aber es gibt so viel, wo wir dran denken müssen." Sie musste unbedingt Listen anfertigen. „Das werden wir auch tun.....aber nicht heute. Du setzt dich jetzt einfach hier  her und lässt dich trösten." Genia schob sie zum Sofa und platzierte sie dort.  Linus legte seinen Arm um sie und zog sie an seine Brust. Er spürte, wie ihr  Körper leicht erbebte und sie leise schluchzte. Es tat ihm im Herzen weh, sie so zu sehen. Aber eins war klar, er würde ihr zur Seite stehen. Nicht nur jetzt, sondern immer. Genia reichte ihm eine Decke, die er über sie beide ausbreitete. Er wiegte Ina leicht hin und her bis sie immer ruhiger wurde und ganz ruhig atmete. „Sie ist eingeschlafen", flüsterte Genia ihm zu. „Kommst du klar?" Er nickte vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Sie brauchte etwas Ruhe. „Wir fahren ins Krankenhaus, um dort alle Formalitäten zu erledigen und dann schauen wir nach Natascha. Wir bringen euch nachher noch etwas zu essen vorbei." Wieder nickte er vorsichtig. Als die Tür ins Schloss fiel war er mit der schlafenden Ina und seinen Gedanken alleine. Wenn er sich vorhin noch gefragt hatte, wie sich der Einzug von Inas Vater in der Villa auf ihre Beziehung auswirkte, raste jetzt eine ganz andere Frage durch seinen Kopf. Wie würde sich der Tod ihres Vater auf Ina auswirken?

Schuss und Treffer -  in der zweiten Mannschaft   ✔️    Teil 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt