Linus wachte schweißgebadet auf. Dieser dämliche Albtraum hatte ihn wieder heimgesucht. Wie jede Nacht seit Hamburg. Und wie jede Nacht seit dem Tod von Inas Vater hatte die Leiche dessen Gesicht getragen. Linus fuhr sich mit seiner Hand durch das Gesicht. Das konnte so nicht weitergehen. Das wusste er selbst. Aber was sollte er dagegen tun? Wieso gelang es ihm nicht das Ganze wieder so zu verdrängen wie in den Jahren davor? Was hatte sich verändert? Okay, das war eine Frage, die er sich ziemlich leicht beantworten konnte. Er war im Hamsterrad gefangen und kam nicht mehr heraus. Nein, anstatt die Flucht zu ergreifen, rannte er nur immer schneller. Manchmal fragte er sich, ob er das machte, weil er hoffte, dass die Zentrifugalkraft ihn irgendwann einfach hinausschleuderte. Leider funktionierte die Physik aber so nicht. Und wenn man hinausgeschleudert wurde, dann blieb meist nicht viel von einem übrig. Inas Vater war ja das beste Beispiel dafür. Nein, so wollte er auf keinen Fall enden. Aber genau dieses Ende sorgte dafür, dass er jetzt noch fester im Hamsterrad gefangen war, denn er versuchte Ina den Rücken frei zu halten. Sie hatte genug mit ihrer Trauer und den ganzen Vorbereitungen für die Beerdigung zutun. Da musste sie sich nicht auch noch einen Kopf um die Firma machen. Trotzdem musste sich nach der Beerdigung dringend etwas ändern. Vielleicht sollten sie einfach über Weihnachten die Koffer packen und verreisen. Die paar Wochen bis dahin würde er schon noch durchhalten. Linus schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Er rollte sich vorsichtig aus dem Bett, damit er Ina nicht weckte. Sie würde am morgigen Tag ihre ganzen Kräfte brauchen, damit sie die Beerdigung überstand. Ihm würde noch eine Mütze voll Schlaf mit Sicherheit auch nicht schaden, aber daran war wahrscheinlich nicht mehr zu denken. Vielleicht half es aber, wenn er sich einen Schluck Wasser holte. Seine Kehle war nämlich wie ausgetrocknet. Auf leisen Sohlen schlich er aus dem Schlafzimmer und dann die Treppe hinunter. Nanu, warum brannte denn da im Wohnzimmer Licht? Er war sich eigentlich sicher, dass er es vorhin ausgemacht hatte. Überrascht blinzelte er mit den Augen.
„Was machst du denn da?" Linus lief zu Ina, die in ihrem Schlafanzug an dem alten Sekretär saß, und schaute ihr über die Schulter. Ina fuhr erschrocken zusammen. „Hast du mich erschreckt!" Ina legte sich ihre Hand an die Brust. Ja, sie hatte ganz vertieft auf einen Zettel vor ihr gestarrt. Linus schaute auf das dicht beschrieben Papier. „Du willst nicht wirklich die Trauerrede selbst halten?" Das war doch... „Natürlich will ich das. Das hätte Papa von mir erwartet. Er hat das auch bei Mama gemacht." Linus drehte den Stuhl zu sich herum und kniete sich vor sie, so dass sie auf Augenhöhe waren. „Machst du es, weil du es willst oder weil du denkst, dass du es musst?" Ina kaute auf ihrer Unterlippe und ihre Augen begannen verdächtig zu glitzern. „Ich will Papa nicht enttäuschen", schniefte sie. Linus griff nach ihren Händen und drückte ihr Küsse auf die Handrücken. „Ich glaube nicht, dass du ihn enttäuschen könntest. Er hat dich doch geliebt. Und er würde bestimmt nicht wollen, dass du dich da durch quälst." Obwohl, so wie er Constantin kennengelernt hatte, war er sich da nicht sicher. Der Kerl war ein kalter Hund, den es wahrscheinlich nicht wirklich im Ansatz interessiert hätte, wie es seiner Tochter dabei ging. Für ihn hatte immer nur das gezählt, was die anderen Leute sagten und was für ihn dabei herausgesprungen war. Und jetzt hatte er die Quittung dafür bekommen. Linus spürte wie Wut in ihm aufstieg. Nein, Ina hatte nicht mehr irgendwelche völlig irren Erwartungen zu erfüllen. Außerdem war er sich sicher, dass sie es auch nicht wirklich schaffen würde diese Rede zu halten, ohne dass sie zusammenbrach. Und das wollte er auf jeden Fall vermeiden. Nicht, weil es der Firma schaden würde, was die einzige Sorge ihres Vaters war, sondern weil er sie liebte und ihr das ersparen wollte. Sie sollte dort auf der Trauerfeier einfach nur trauern dürfen. Nicht mehr und nicht weniger. Bei dem Wort Trauerfeier musste er einen Schnauber unterdrücken. Wie krank war dieses Wort bitte? Trauer und Feier lagen ja wohl auf der Gefühlsskala genau am entgegengesetzten Ende. „Aber wer soll die Rede halten, wenn nicht ich? Natascha kann das auf keinen Fall. Sie ist noch viel zu jung." Okay, da gab er ihr sofort recht. Er fragte sich nur, warum sie keinen professionellen Redner dafür engagiert hatten. Dafür gab es diese Leute doch extra. „Habt ihr denn keinen Redner beauftragt?" Ina schaute ihn erstaunt an. „Nein, das ist doch viel zu unpersönlich. Der hätte ihn doch gar nicht gekannt." Okay, das war sogar ein Vorteil, wenn man glaubhaft Lobgesänge über den Verstorbenen vortragen sollte. Linus wären nämlich nicht viele positive Eigenschaften zu ihm eingefallen. Nur, dass er zwei zauberhafte und wirklich liebe Töchter gezeugt hatte, die er mit seinem antiquierten Erziehungsdogma nicht komplett zerstört hatte. Ja, er hatte nicht das beste Bild von dem Verstorbenen. „Du kannst die Rede aber auf keinen Fall halten. Das ist viel zu viel von dir verlangt." Ina schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich muss!" Sie wandte sich wieder dem Blatt vor ihr zu und fing an leise vorzutragen. Bereits bei dem dritten Wort verhaspelte sie sich und fing an zu schluchzen. „Verflucht, ich schaffe nicht einmal den ersten Satz richtig. Papa wird so enttäuscht von mir sein." Das bezweifelte er, denn Tote bekamen ja sowieso nichts mehr mit. Also, was sollte das ganze Theater? Und wenn er ehrlich war, war der Alte doch sowieso der Meinung, dass Frauen zu nichts fähig waren. Das hatte er Ina doch oft genug spüren lassen. Also was spielte es jetzt noch für eine Rolle? Er sah Inas verzweifelten Blick. „Wäre es denn okay, wenn ich die Rede halte?" Ein Strahlen ging durch Inas Gesicht. „Ja, natürlich wäre das okay. Du gehörst ja zu mir und damit auch zur Familie. Das würdest du wirklich tun?" Was sollte er denn dazu sagen? „Hätte ich es sonst vorgeschlagen?" Ina beugte sich zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ihr war die Erleichterung mehr als ein bisschen anzumerken. Linus griff nach dem Zettel auf dem Sekretär. „So, du gehst jetzt wieder ins Bett und ich übe schon einmal ein wenig." Er schob Ina vom Stuhl und setzte sich selbst. „Danke!" Sie drückte ihm noch einen Kuss auf die Wange, ehe sie aus dem Zimmer lief. Sein Blick ging zu der Schrift. Okay, dann hatte er jetzt wohl eine Rede zu lernen. Wenigstens war er dann sicher vor einem weiteren Albtraum und starrte nicht nur in die Dunkelheit während er keinen Schlaf mehr fand.
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Schuss und Treffer - in der zweiten Mannschaft ✔️ Teil 13
RomanceLinus und Ina sind schon seit zwei Jahren ein Paar. Gemeinsam führen sie das Bauunternehmen von Inas Vater, der seit seinem Herzinfarkt ein Pflegefall ist. Für Ina war der Weg in die Firma schon von kleinauf vorgezeichnet. Linus hatte sich sein Lebe...