Kapitel 1: Kralle an der Ferse

11 1 0
                                    

Justin war es. Natürlich. Es war immer Justin. Wenn die gesamte bucklige Verwandschaft anrückte, dann konnte es nur Justin sein. Als ob Justins Schwester Marie jemals diese Aufgabe für ihn erledigen würde.

Das Gesicht des 17-Jährigen erschlaffte wie üblich,  wenn man ihn ansprach. Das hatte ihm schon so manche Standpauke eingebracht, aber wie manche Eltern sagen würden, der Fisch ist schon gegessen. Erziehung ist etwas, das man früh anfangen muss. Und so stand Justin wieder genervt im Hausflur, als ihn sein Vater mit den bekannten Worten ansprach: "Ach Justin, hol doch mal eine Flasche Wein aus dem Keller!" Ernsthaft? Justin runzelte innerlich die Stirn. Seine Eltern wussten doch ganz genau, dass er es hasste, in den Keller zu gehen. Es war unerklärlich, zumindest für seine Eltern, aber jedes mal, wenn er besagten Wein aus besagtem Keller holen musste, dann überkam in ein so ein unangenehmes Gefühl, als ob jemand Eiswürfel in seinen Rücken geschüttet hätte. Und die Tatsache, dass es in dem verhältnismäßig kleinen Keller auch noch arschdunkel war, machte das nicht besser.

Tatsächlich hatte Justin als Kind des öfteren versucht, seinen Eltern von diesem Gefühl zu erzählen und sie davon zu überzeugen, dass er nicht mehr in den Keller gehen müsse. Aber seine Eltern hatten sein Unbehagen nur als präpubertäres Trotzverhalten gedeutet und so hatten sich die paar Diskussionen als fruchtlos erwiesen. Sie hatten ihn mit der jenigen Stimmgewalt, welche nur Eltern besitzen, niedergerungen und so war es zur festen Aufgabe von Justin geworden,jedesmal die Sachen aus dem Keller zu holen, wenn an irgendeinem Feiertag etwas erforderlich war. Justin hatte schließlich aufgehört zu rebellieren, und seine Aufgabe mit einer gewissen trotzigen Einstellung nachzugehen.

Und doch, die Angst vor dem Keller war nicht gewichen, nicht in den Jahren, in denen Justin herangewachsen ist und seine Interessen zunehmend erwachsener geworden sind. Trotz all dieser Jahre war Justins Nervosität nicht verschwunden. Im Gegenteil, zeitweise hatte sich diese Nervosität in eine fast schon nagende Angst vor dem Keller entwickelt, besonders wegen einiger Ereignisse, die Justin nicht vergessen konnte. Und so wurde Justin schließlich klar, dass er nie Angst vor dem Keller direkt hatte, zumindest keine ungewöhnliche (obwohl der Keller trotzdem unangenehm war).

Den Keller erreichte man, indem man in der Garage des Hauses eine weiße Tür öffnete und eine hölzerne Treppe hinunterstieg, bis man den kleinen Keller erreichte. Die Tür selbst war extrem schwer und Justin musste sie immer wieder mit seine ganzen Körpergewicht aufstoßen, so auch an diesem Abend.

Justin verkniff sich jeden Kommentar in Richtung seines Vaters. Er wusste, dass sein Vater kaum Nerv für die alte Ich-habe-Angst-vor-dem-Keller-Diskussion haben würde, also war es am sinnvollsten einfach mal die Klappe zu halten. Er versuchte das nervöse Grummeln in seinem Bauch zu unterdrücken und betrat stillschweigend die Garage.

Wie immer flutete das Licht der Garagenlampe den Raum und tauchte es in ein steriles Weiß, was nicht unbedingt zu Justins Entspannung beitrug, besonders seit seinem letzten Krankenhausbesu- Nein. Justin schüttelte verärgert den Kopf, es brachte nix, sich immer wieder und wieder alte Geschichten in den Kopf zu rufen. So wanderte sein Blick von der kalten Lampe zu der weißen Tür. Wie immer ragte die Pforte, diesen Namen hatte er der weißen Tür gegeben, unheilvoll vor ihm auf. Ein kühler Wind schien durch den schmalen Türschlitz zu Justins Beine zu wehen, vermutlich hatte Justin mal wieder vergessen, das Fenster im Keller zu schließen. Egal.

Justin trat mit einigen zügigen Schritten zu der Pforte und rammte sie auf. Mit einem ekelhaften Quitschen, als wäre sie Jahrzehnte nicht mehr geölt worden, schwang sie auf und gab Justin den Blick auf die Holztreppe nach unten frei. Instinktiv tastete Justin nach dem Lichtschalter, und wie immer musste er fluchend bemerken, dass es keinen Lichtschalter gab. Er zog eine Schnutte. Er musste unbedingt mal eine verdammte Glühbirne hier reinbauen, denn bisher war die einzigste Lichtquelle das Licht der Garage, dass durch die geöffnete Tür fiel. Ein selten dämlicher Konstruktionsfehler, fand Justin. Er setzte einen Fuß auf die erste Treppenstufe.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 08, 2023 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Tales parvae somniorumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt